Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss
Cambridge 5 – Zeit der Verräter
Was weiß ich, wie Nannys in diesem durchgeknallten Land eingestellt werden! Warum redest du eigentlich nicht mit David darüber, oder ist es dir peinlich, dass du seine Exfreundin stalkst? Würde das die dunkle Seite der braven Wera zeigen - die eifersüchtige Wera?“„Du bist ein Idiot, Jasper.“„Ich hatte Psychologie im Nebenfach.“
„Wann hast du Polina zuletzt gesehen?“
Jasper gab einen grunzenden Laut von sich. „Vor Monaten! Sie ist immer noch sauer. Wahrscheinlich wegen euch, ich weiß es nicht. Ich habe ihr ein fantastisches Angebot gemacht, diese Papiere für viel Geld zu übersetzen, aber sie antwortet auf keine meiner E-mails.“
„Ihr habt doch gemeinsam diese Bahnhofsnamen gefunden.“„Ja, vor drei Monaten!“„Vielleicht hat sie damals mehr in den Unterlagen gesehen, als sie dir erzählt hat?“
„Sicher, und das hat sie dann als gute Russin nach Moskau gemeldet?“Jaspers Stimme klang sarkastisch.
„Ich habe irgendwie das Gefühl, sie hat uns alle angelogen.“„Gefühl. Sehr gut. Geht immer.“„Wusstest du, dass die Russen das oft gemacht haben?“
„Au-pair-mädchen als Agentinnen eingestellt? Wären Studentinnen da nicht besser? Was ist mit dir, Wera? Kommen deine Eltern vielleicht aus der ehemaligen DDR? Für wen arbeitest du?würdest du es mir gestehen? Bitte gestehe, Wera!“Jasper lachte. Sein Gericht schien sehr viel besser zu sein als ihres. Vielleicht lag seine gute Laune auch am Alkohol. Er hatte bereits den dritten Gin Tonic bestellt.
„Es wäre keine neue Idee, solche Mädchen einzusetzen“, überlegte Wera. „Die Russen hatten zum Beispiel diese Agentin Maisie. Sie war eine echte Legende, hatte schon im Spanischen Bürgerkrieg mehrmals ihr Leben aufs Spiel gesetzt und wurde dann für eine neue Mission in Amerika ausgebildet.“„Als Au-pair-mädchen?“„Besser. Als Kosmetikerin. Sie arbeitete in einem Schönheitssalon in Washington und machte den Damen der Gesellschaft die Facials. Und die plauderten hemmungslos über ihre Ehemänner. Sie hat auf diese Weise sogar 1961 die geplante Invasion in der Schweinebucht nach Moskau melden können.“
„Tolle Geschichte“, sagte Jasper. „Dann ist ja alles klar. Polina ist schuldig, eindeutig.“
„Verstehst du nicht? Es hat Tradition, solche Frauen einzusetzen. Da hat sich sicher nichts geändert. Polina ist viel zu schön und gebildet für eine Putzfrau.“
„Ich bin nicht sehbehindert, Wera. Aber was glaubst du, wie viele schöne Frauen heutzutage putzen müssen. Und wenn sie echtes Pech haben, dann gehen sie abends auch noch auf den Strich. Du willst, dass Polina für irgendwas schuldig ist, weil du dann kein schlechtes Gewissen wegen David mehr haben musst. Also siehst du überall Indizien. Das Wort dafür heißt Tunnelblick.“
„Sie hatte auch Zugang zu Stefs Haus“, erwiderte Wera.
„Was soll das jetzt? Willst du ihr auch noch einen Mord anhängen? Warum um Gottes willen sollte sie Stef umbringen?“
Wera schwieg. Sie wusste, wie un- logisch das alles klang.
„Also, jetzt drück mal die Stopptaste, Wera. Punkt eins: Die Bahnhofsnamen haben nichts mit Stef zu tun. Die sind meine Entdeckung, von der bisher nur Polina, du und David wissen. Punkt zwei: Stef ist nicht in seinem eigenen Haus ermordet worden - zu dem wir übrigens alle Zugang hatten -, sondern in Hunts Collegezimmer. Hatte deine Superspionin Polina also auch einen Collegeschlüssel?“„Nein, natürlich nicht.“„Und was noch wichtiger ist, wo ist ihr Motiv? Warum hätte sie Stef umbringen sollen? Bei David hätte sie ja einen Grund gehabt, Mord aus Leidenschaft oder irgend so ein Scheiß, aber bei seinem uralten Vater?“
Wera wusste, dass sie zu weit gegangen war, aber sie wollte gegenüber Jasper keine Schwäche zeigen.
„Okay, Jasper, du bleibst also dabei, dass es Hunt war. Aber warum ist er dann bisher nicht verhaftet worden?“
„Wahrscheinlich, weil die britische Polizei korrupt ist und die Elite schützt.“
„Okay, ich habe also einen Tunnelblick, und du hast keinen?“
Eine laute chinesische Reisegruppe betrat das Restaurant.
„Was hast du gesagt?“, schrie Jasper. „Ich verstehe gar nichts mehr!“ April Cambridge
Die Sache mit Stef erinnerte sie immer ein wenig an die Geschichte von Donald Maclean. Nachdem aufgeflogen war, wer hinter dem Codenamen Homer stand, hatten Burgess und Philby alles in Bewegung gesetzt, um Maclean zu ret- ten. Sie verstand das sehr gut. Das Gleiche hatten sie und ihre „rechte Hand“getan, nachdem Stefs Stick aufgetaucht war. Anfangs war es ein furchtbarer Schock für sie gewesen. Der Stick enthielt nicht die üblichen technischen Daten aus seiner Firma, sondern perfekte Übersetzungen und Analysen der Mitrochin-papiere. Stef hatte ganz offensichtlich ein eigenes Computerprogramm entwickelt, das die Papiere systematisch nach Codenamen und den dazu passenden Arbeitsgebieten durchsuchte. Damit waren ihm nicht nur die Zusammenhänge von 1970 klarer geworden, sondern er stand auch kurz davor, all die „Bahnhofsnamen“zu entschlüsseln.
Von diesem Moment an hatte es keinen anderen Ausweg mehr gegeben, als Stef und seinen Stick loszuwerden. Man schützte seine eigenen Leute bis zuletzt. Dieser unbedingte Corpsgeist hatte eine lange Tradition, die bis auf die Anfänge des KGB zurückging. Burgess, Maclean, Blunt und Philby hatten in dieser Tradition gehandelt - Burgess bis zur Selbstaufgabe und Blunt und Philby im sicherenwissen, damit ihre Reputation für immer zu gefährden. Alle vier hatten am Ende dafür einen hohen Preis zahlen müssen, aber es war die Sache wert gewesen.
Sie hatten Hunt für die Rolle des Mörders vorgesehen, und er hatte sich dieser Rolle durch einen idiotischen Zufall entzogen. Er war zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen, und sie verstand nicht, wie er so viel Glück haben konnte. Sie gab die Hoffnung trotzdem nicht auf. Sie wartete, das konnte sie, darin war sie gut.
(Fortsetzung folgt)