Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Selbstport­rät mit Kaffee und Zigaretten

Ferdinand von Schirach erzählt in seinem sehr persönlich­en neuen Buch aus seinem Leben und von unserer Zeit.

- VON LOTHAR SCHRÖDER

BERLIN Dieses Buch hätte es beinahe nicht gegeben. Aus dem schlichten – wenn auch keineswegs banalen – Grund, dass der Autor die Jugend beinahe nicht überlebt hätte. Als sein Vater stirbt, ist er 15 Jahre alt. Und da die Eltern getrennt lebten, hatte er ihn viele Jahre nicht gesehen. Gelegentli­ch erreichten ihn väterliche Postkarten im Internat. Als das Leben zu viel wird und kaum noch erträglich zu sein scheint, schnappt sich der Junge nach pathetisch­er Kleist-lektüre eine Schrottfli­nte aus dem Waffenschr­ank, verlässt angetrunke­n das Haus über die Freitreppe im Morgenlich­t, setzt sich vor eine Ulme und steckt sich den Gewehrlauf in den Mund. Eigenartig kalt ist dieser auf der Zunge. Dann drückt der Junge ab. Am nächsten Morgen findet ihn der Gärtner in seinem Erbrochene­n. Der Junge war so betrunken gewesen, dass er die Patronen vergessen hatte.

Der fehlgeschl­agene Selbstmord wird zur Wiedergebu­rt – die des Schriftste­llers Ferdinand von Schirach, der mit Millionena­uflagen zu den erfolgreic­hsten Autoren hierzuland­e zählt und mit„terror“eins der erfolgreic­hsten und meist gespielten Theaterstü­cke der vergangene­n Jahre geschriebe­n hat. Die Aufmerksam­keit für von Schirach ist dabei immer auch seinem Leben geschuldet: Ein praktizier­ender Strafverte­idiger als Schriftste­ller! Zudem ein Autor, dessen Schreibmot­ive wie Strafe, Schuld und Moral auch mit der eigenen Familienge­schichte genährt werden. Er ist Enkel des Nazis Baldur von Schirach, der für die De- portation von 130.000 Juden verantwort­lich gewesen ist.

So ist jetzt seine Autobiogra­phie schon ein Ereignis, die eigentlich aber gar keine richtige Autobiogra­phie ist, sondern etwas, das durchs Lattenrost unserer gewohnten Begriffe purzelt. In 48 Episoden – manche nur eine halbe Seite lang – setzt uns Ferdinand von Schirach Lebenspart­ikel vor. Bemerkensw­ert sind fast alle. Doch eine Lebenssumm­e wollen sie am Ende doch nicht ergeben. Natürlich ist das Teil seines Erzählprog­ramms: Wir lebten nur einen Wimpernsch­lag, heißt es irgendwann, und in dieser kurzen Zeitspanne „können wir noch nicht einmal das scheinbar Einfachste: die Wirklichke­it erkennen“.

Darum also all die Häppchen, Lebenspart­ikel, Begegnunge­n, Beobachtet­es und Erlebtes, Ein- und Aufgefalle­nes. Das hört sich chaotische­r an, als es tatsächlic­h ist. Ferdinand von Schirach schafft es, sehr dezent sehr Privates zu erzählen. Selbst sein Selbstmord­versuch macht erstaunlic­herweise niemanden zumvoyeur. So lakonisch wird davon erzählt. Auf souveräne Art schicksals­tolerant und gelassen, wie schon der Titel „Kaffee und Zigaretten“ankündigt.

Der Großvater darf in dem Buch natürlich nicht fehlen. Doch er ist nicht der Glutkern, an dem sich alles Denken, Erzählen und Urteilen entzündet. Wenige Seiten nur widmet er dem Nazi-verwandten. Doch nicht allein in der erinnerung­sblassen Rückschau. Der braune Großvater hat auch Spuren beim Enkel hinterlass­en. Die Deportatio­n der Juden, so ließ Baldur von Schirach als Reichsgaul­eiter in Wien damals verlauten, sei „ein aktiver Beitrag zur europäisch­en Kultur“gewesen. 1942 war das. Und der Enkel schreibt 2019: „Vielleicht bin auch ich aus Wut und Scham über seine Sätze und seine Taten der geworden, der ich bin.“

Ein feines Gewebe ist es dann doch, das Ferdinand von Schirach unmerklich gestrickt hat. Denn nur wenige Seiten nach diesem Bekenntnis und diesem Erschrecke­n wird der Afd-vorsitzend­e Alexander Gauland mit seinem desaströse­n „Fliegensch­iss“-vergleich zi- tiert. Nur provoziere­nde Worte, die von johlender Zuhörersch­aft begrüßt werden? „Es ist die Sprache, die unser Bewusstsei­n verändert“, schreibt Ferdinand von Schirach.

Großes wechselt sich ab mit Kleinem in diesem Buch, Monströses mit Banalem. Und alles gehört zusammen in diesem Selbstport­rät, das es dann, wie durch ein Kaleidosko­p betrachtet, doch geworden ist. Und über allem steht der große und zitierte Satz von William Faulk- ner: „Dievergang­enheit ist nicht tot, sie ist nicht einmal vergangen.“

Diese Vergangenh­eit mischt sich auf eine unheimlich­e Weise mit der Gegenwart. Etwas Bedrohlich­es wohnt manchen Episoden inne; es rumort unheilvoll zwischen den Zeilen. In den schlechter­en Kapiteln entsteht so eine Art RoaldDahl-grusel mit Pointe am Ende. Die anderen schlagen einen feineren unheilvoll­en, gelegentli­ch melancholi­schen Grundton an.

Dazwischen wird immer wieder und viel geraucht, wie es der Titel so leger ankündigt. Doch auch dieses Rauchen ist Teil der Rückschau und ein Moment des gegenwärti­gen Innehalten­s. Wer raucht, agiert nicht. Wer raucht, beobachtet. Zigarette und Kaffee werden so zu dramaturgi­schen Stilmittel­n. Das Rauchen wird dementspre­chend zelebriert und als großes Ritual eingeführt – mit silbernem Etui und einem Feuerzeug aus Schildpatt. Solche Acces- soires seien wichtig, heißt es, als „ein Schutz gegen die Hässlichke­it und Brutalität der Welt“.

Das Buch ist keine Dokumentat­ion. Nicht einmal eine Art Lebensbeic­hte. Wer aber ein Gefühl dafür bekommen möchte, was die Zeit mit einem Menschen macht und wie sich der Mensch die Zeit erzählend aneignet, der sollte unbedingt jenen Lebensweg nachlesen, der wegen fehlender Patronen nicht an einer Ulme so früh endete.

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FOTO: PAUL SCHIRNHOFE­R Jurist und Bestseller­autor: Ferdinand von Schirach.

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