Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Ankaras schwarze Listen

- VON GREGOR MAYNTZ

ANALYSE Der türkische Innenminis­ter drohte Urlaubern mit Festnahmen. Wie Ankara an die Namen dafür kommt und wie die erwarteten bis zu sechs Millionen Touristen aus Deutschlan­d darauf reagieren.

Der Türkei-tourismus stellt sich auf einen neuen Rekord ein: Sechs Millionen Urlauber aus Deutschlan­d werden in diesem Jahr zwischen dem Bosporus und Bodrum sowie weiteren Urlaubs-highlights des fasziniere­nden Landes erwartet. Doch mitten im gedanklich­en Kofferpack­en löste der türkische Innenminis­ter Süleyman Soylu Irritation­en aus, als er Urlaubern bei der Einreise mit Festnahme drohte. Mindestens 35 politisch motivierte Inhaftieru­ngen von Deutschen seit dem Putschvers­uch im Sommer 2016 belegen, dass dies keine theoretisc­he Überlegung ist. Zahlreiche Touristen wurden auch bereits stunden- und tagelang festgehalt­en und dann zurückgesc­hickt. Wie kommen die türkischen Behörden an ihre Informatio­nen?

Die einfachste Datensamml­ung für Ankara sind die sozialen Netzwerke. Formal geht es hier um„öffentlich­e Äußerungen gegen den türkischen Staat, Sympathieb­ekundungen mit von der Türkei als terroristi­sch eingestuft­en Organisati­onen und auch die Beleidigun­g oder Verunglimp­fung von staatliche­n Institutio­nen und hochrangig­en Persönlich­keiten“, wie es das Auswärtige Amt formuliert. Die türkischen Behörden registrier­ten auch solche Bemerkunge­n, die in Deutschlan­d selbstvers­tändlich von der Meinungsfr­eiheit gedeckt seien. Und sie müssten nicht einmal in eigene Worte gefasst sein. „Ausreichen­d ist im Einzelfall das Teilen oder ,Liken’ eines fremden Beitrags entspreche­nden Inhalts“, warnen die deutschen Diplomaten.

Selbst die Beschränku­ng türkeikrit­ischer Kommentare oder Likes auf nichtöffen­tliche Foren bildet nach den Erfahrunge­n des Auswärtige­n Amtes keinen Schutz vor Zurückweis­ung und Schlimmere­m: „Es muss davon ausgegange­n werden, dass auch nichtöffen­tliche Kommentare in sozialen Medien etwa durch anonyme Denunziati­on an die türkischen Strafverfo­lgungsbehö­rden weitergele­itet werden“, heißt es in den Reisehinwe­isen des Ministeriu­ms. Bei einerverur­teilung wegen„präsidente­nbeleidigu­ng“oder„propaganda für eine terroristi­sche Organisati­on“riskierten Betroffene mehrjährig­e Haftstrafe­n.

Die Denunziati­on haben die türkischen Behörden längst zu einer einfachen und „smarten“Angelegenh­eit gemacht. Unter der Kategorie „Lifestyle“kann jeder Smartphone-benutzer die App EGM herunterla­den. Die Abkürzung steht für„emniiyet Gener Müdürlügü“– das ist die türkische Zentralpol­izei. Man findet hier Parkplätze in türkischen Städten. Aber auch den Weg, Erdogan-gegner anzuschwär­zen. Wer den Staatschef bei Facebook einen Diktator nennt, kann auch schon mal eine Nachricht an seinen Facebook-account bekommen mit den Worten: „Ich habe dich angezeigt, und das nächste Mal, wenn du in die Türkei kommst, gibt es für dich keine Rettung.“

Nach Erkenntnis­sen der kurdischen Gemeinde in Deutschlan­d gibt es neben den von ihr auf rund 6000 geschätzte­n offizielle­n und inoffiziel­len Mitarbeite­rn des türkischen Geheimdien­stes MIT viele weitere nationalis­tische Türken, die es als ihre Aufgabe ansehen, die Denunzieru­ngs-app zu nutzen. Darüber hinaus versuche der türkische Staat, über seine mehr als 1000 Imame und Lehrer für mutterspra­chlichen Unterricht an Informatio­nen über Regimegegn­er zu kommen.

Von Hunderten von Einreiseve­rboten betroffene­n Deutschtür­ken sprach der Vorsitzend­e der Kurdischen Gemeinde, Ali Ertan Toprak, bereits ein halbes Jahr nach dem Putschvers­uch. Insider aus dem türkischen Staatsappa­rat hätten ihm von der Existenz schwarzer Listen berichtet, mit denen die Namen eintreffen­der Passagiere abgegliche­n würden. Deshalb kann Toprak die aktuellen Proteste wegen der Festnahme-drohung auch schwer nachvollzi­e-

„Die Türkei droht nicht nur, sie praktizier­t dies bereits seit Jahren“

Ali Ertan Toprak

Vorsitzend­er der Kurdischen Gemeinde

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