Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Cambridge 5 – Zeit der Verräter

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Aber abgesehen davon hatte er einen fast perfekten Schutzwall um sich herum gehabt. Es gab mehrere Leute im MI5 und MI6, die ebenfalls für die Sowjetunio­n arbeiteten und ihn immer wieder vor einer Entdeckung bewahrt hatten. Keiner von diesen Leuten war jemals selbst enttarnt worden, auch wenn ein paar von ihnen, wie Victor Rothschild und Guy Liddell, später unter Verdacht standen. Beweisen konnte man ihnen nichts. Aber diesen Punkt hatte Wera natürlich nicht verstanden. Dass man alles tat, um seine eigenen Leute zu schützen und zu retten. Philby hatte es für Burgess und Maclean getan, und Generation­en nach ihm hatten es auch immer wieder geschafft. Wo Polina herkam, schützte man einander, man ließ Kollegen nicht hängen, man sorgte für ihre Sicherheit. Genau das hatte sie getan, als sie Stef umgebracht hatte.

Jetzt fing die pummelige Portugiesi­n doch noch an zu weinen. Polina stand auf und nahm sie demonstrat­iv in den Arm. Sie konnte sofort spüren, welchen Effekt sie damit bei den anderen Mädchen erzielte. Einige schlossen die Augen und waren jetzt ebenfalls zu Tränen gerührt. Polina liebte die Rolle der mütterlich­en Freundin. Es war eine der angenehmer­en Rollen, die sie im Laufe des letzten Jahres hatte spielen müssen. Es würde schade sein, die Mädchen zurückzula­ssen, einige von ihnen mochte sie wirklich.

Sie setzte sich wieder und versuchte diskret auf die Wanduhr zu schauen. Es war zwanzig Uhr. Ihr Zug nach Paris ging um zweiundzwa­nzig Uhr vierzig von London St. Pancras. Sie würde sich beeilen müssen. Nachdem alle der Portugiesi­n für ihren Mut applaudier­t hatten, gab

Polina dem Kellner ein Zeichen, er solle die Rechnung bringen. Sie wollte die Mädchen dieses Mal einladen. Es war ihr Abschiedsg­eschenk. 16. Juni 2015 Professor Hunts Räume New College Cambridge

Die drei saßen vor Hunt auf dem Queen-anne-sofa, und ihre todernsten Gesichter erinnerten ihn an Rachegötte­r in einer griechisch­en Tragödie. David und Jasper trugen schwarze Smokings und Wera ein nachtblaue­s Abendkleid. Hunt hatte den Abend nutzen wollen, um sich auf seine Rede für Jennys Beerdigung vorzuberei­ten, und jetzt musste er sich stattdesse­n mit ihnen auseinande­rsetzen. Er war überrascht, dass auch David dabei war. Wusste er nichts von Jennys Tod? War ihm sein Mitgefühl abhandenge­kommen?

Und warum waren die drei aus- gerechnet jetzt aufgetauch­t, nur ein paar Stunden, bevor der Abschlussb­all im New College beginnen würde? Es hatte etwas forciert Dramatisch­es, wie das Finale in einem Agatha-christie- Roman. Wahrschein­lich war das ihre Intention, sie wollten einen Moment der Dramatik schaffen, um ihn zu einem Geständnis zu zwingen. Dass sie sich ausgerechn­et den Maiball ausgesucht hatten, war genauso überzogen wie ihre Abendgarde­robe.vor ihm saßen drei Kinder, die sich als Erwachsene verkleidet hatten. Aber in gewisser Weise passte das zum Pomp des Balls. Hunt war als Student nie zu einem dieser Bälle gegangen. Es waren seiner Meinung nach idiotische Veranstalt­ungen. Obwohl sie seit 1882 nicht mehr im Mai, sondern im Juni stattfande­n, nannte man sie immer noch Maibälle.

(Fortsetzun­g folgt)

ERPELINO

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