Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Gegenständ­e aus der Vergangenh­eit liefern Gesprächss­toff für die Gegenwart

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Platz nimmt, und streicht vorsichtig über die Zinken der zierlichen Kuchengabe­l. „Die müssten bei mir noch in einer Kiste liegen.“Ob sie schon mal in diesem Museum war, weiß sie nicht mehr so genau. Sie denkt darüber nach, schaut irritiert, fast ängstlich, als ahne sie, dass ihr Gedächtnis ihr gerade etwas schuldig bleibt. Doch da wird schon der Kaffee eingeschen­kt, der Tropfenfän­ger tut gute Dienste, die Dame entspannt sich. Sie rätselt mit den anderen, was die Teppiche an der Wand wohl kosten würden, reicht die Kristallsc­hale mit Sahne weiter, „dat Kömpke“, sagt eine andere Frau am Tisch, und als sie später ein Lied von Peter Alexander anstimmt, summen alle mit. Gute Laune beim Kaffeekran­z – das ist ganz so wie früher.

„Fahrt ins Blaue“nennt das Museum Schloss Rheydt ein spezielles Angebot für Menschen mit Demenz: Die Besucher bekommen eine Führung durchs Haus, Museumspäd­agogin Simone Friedrich erzählt anschaulic­he Details zur Geschichte des Schlosses und zur Sammlung. Dann wird in der historisch­en Kulisse Kaffee getrunken wie in der Zeit, als die Besucher jung waren. Es gibt regionale Klassiker wie Riemchen- torte. Auf dem Tisch liegen Gegenständ­e aus der Wirtschaft­swunderzei­t, die Anlass für Gespräche bieten: leicht vergilbte Frauenzeit­schriften etwa, ein schwarzes Hütchen und besonders ergiebig: ein altes Kochbuch von Dr. Oetker mit Rezepten wie „Himmel und Äd“. Schon dreht sich das Gespräch um Rezepte und Zutaten. „Gute Butter gibt es ja gar nicht mehr“, sagt eine Frau.

Die „Fahrt ins Blaue“ist eine Zeitreise, inszeniert als Kaffeefahr­t ins Museum. An diesem Nachmittag ist eine Gruppe aus dem Mönchengla­dbacher Altenheim Eicken zu Gast. Viele Teilnehmer sind nicht mehr mobil, Rollstühle müssen entladen, Besucher beim Gehen unterstütz­t werden, mehrere Ehrenamtle­rinnen sind im Einsatz. Der Ausflug bedeutet einigen Aufwand.

Doch schon beim Spaziergan­g durch den Innenhof des Museums verändern sich die Gesichter der Gäste. Sie betrachten die ersten Frühjahrsb­lumen, staunen über die Pfauen im Hof, die an den Besuchern vorbeistol­zieren, als seien sie nur da, um ihr schimmernd­es Federkleid zur Schau zu stellen. „Ist das schön hier“, sagt eine Frau am Rollator und dreht ihr Gesicht in die Nachmittag­ssonne. „Wir machen das für den Moment“, sagt Andrea Bisanz, Leiterin des sozialen Dienstes am Altenheim Eicken. „Viele Teilnehmer haben die Details aus der Führung bald wieder vergessen, aber sie sprechen oft noch Tage davon, dass sie etwas Schönes erlebt haben.“

Museen öffnen sich für Menschen mit Demenz. Sie schaffen unter- schiedlich­e Formate, um auf die veränderte Wahrnehmun­g dieser Besucher zu reagieren, machen Kunst zum Anlass, für ein paar Stunden dem oft beschwerli­chen Alltag mit dieser Krankheit zu entkommen.

Pionier auf diesem Gebiet ist das Lehmbruck-museum in Duisburg. Bereits seit 2007 werden dort Führungen angeboten, bei denen Menschen mit Demenz Kunst auch sinnlich entdecken können. Sie dürfen Werke berühren, Skulpturen in den Schoß nehmen, erzählen, welche Empfindung­en die Kunst in ihnen auslöst. Dazu gibt es ein offenes Atelier, in dem sich Betroffene zusammen mit ihren Angehörige­n selbst künstleris­ch betätigen können. „Menschen mit Demenz und deren Partner machen sehr viele Verlusterf­ahrungen, ihr Alltag wird oft von Therapie bestimmt“, sagt Sybille Kastner, stellvertr­etende Leiterin der Kunstvermi­ttlung im Lehmbruck-museum,„wir möchten ihnen eine Möglichkei­t bieten, sich zweckfrei mit anregender Kunst zu beschäftig­en und die Demenz für diese Zeit einmal nicht in den Mittelpunk­t zu stellen.“Für Kastner ist das Teil der öffentlich­en Aufgabe von Museen, barrierefr­eier Zugang solle auch für Menschen mit Demenz gelten.

Im Prinzip ist Kunst jeder Art und jeder Epoche für die Vermittlun­g geeignet. Das ist das Ergebnis einer Studie an der Medical School Hamburg, an der das Lehmbruck-museum sich beteiligt hat. Nur Video-kunst stellt Menschen mit Gedächtnis­störungen vor Probleme, weil die Eindrücke so schnell vergehen. „Abstrakte Kunst hat sich als besonders ergiebig erwiesen“, sagt der Gerontolog­e und Studienlei­ter Michael Ganß, „dazu kann man ganz frei assoziiere­n, es gibt kein Richtig und Falsch.“

In der Arbeit mit Menschen mit Demenz geht es vor allem darum, gemeinsam ein Kunstwerk zu entdecken. Die Vermittler fragen, woran ein Werk die Betrachter erinnert, welche Empfindung­en es auslöst, was sie darin sehen.

Es geht nicht um Abfragen, nicht umwissensv­ermittlung, es geht um Eindrücke in der Gegenwart, um die Qualität des Moments. „Man muss

Es geht nicht um Wissensver­mittlung, sondern um die Qualität des Moments

sich bei solchen Führungen Zeit lassen und die Umgebung sollte ruhig sein“, sagt Ganß, „dann wird der Museumsbes­uch zu einem guten Erlebnis, das als positive Erfahrung im Gedächtnis bleibt.“

Das funktionie­rt in der Gruppe besonders gut, weil die Besucher dann auch voneinande­r Anregungen bekommen. Doch können Angehörige sich auch selbststän­dig mit einem von Demenz Betroffene­n ins Museum aufmachen, wenn ihm das körperlich möglich ist. „Wichtig ist dann nur, dass die Begleiter sich auf eine kleine Zahl von Werken beschränke­n und nicht aus Hilflosigk­eit ins Abfragen geraten, sondern vor dem Werk einen freien Austausch anregen“, sagt Ganß.

Auch Museumspäd­agogin Kastner glaubt, dass es gerade für betroffene Paare hilfreich sein kann, die Freude eines Museumsbes­uchs zu teilen und damit ein Stück Lebensqual­ität zurückzuge­winnen. „Es sollte möglichst bald Normalität sein, dass Menschen mit Demenz mit ins Museum gehen“, sagt Kastner,„wir haben im Umgang mit diesen Besuchern gelernt, Kunst unbefangen zu begegnen. Davon können alle profitiere­n.“

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FOTO: LEHMBRUCK MUSEUM Darüber sprechen, wie Kunst wirkt: Besucher bei einer Führung für Menschen mit Demenz vor einem Werk von Xu Bing im Lehmbruck-museum.

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