Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Nostalgie und Natur an der Leine

Wer eine Städtereis­e plant, denkt nicht zuerst an Hannover. Dabei ist Niedersach­sens Landeshaup­tstadt sehr vielfältig.

- VON CORNELIA HÖHLING

HANNOVER

Großeverwu­nderung herrscht meist, wenn jemand außerhalb von Tagungen oder Messen nach Hannover fahren will. Manchmal erntet er dafür sogar Spott, nach dem Motto: Lebte dort nicht der Serienmörd­er Haarmann? Doch es gibt tausend gute Gründe, die niedersäch­sische Landeshaup­tstadt zu besuchen. Sie ist mehr als ein traditions­reicher Wirtschaft­sstandort mit der Herstellun­g von Bahlsen-keksen und dem Exportschl­ager Bier. Ob Jung oder Alt, Geschichts­fan, Naturliebh­aber, Kulturbege­isterter – hier kommen alle auf ihre Kosten. Zudem liegen Städtereis­en nicht nur im Trend, sondern sogar auf der Überholspu­r, wie Statistike­n belegen.

In der Regel trifft man sich „unterm Schwanz“, das heißt am Reiterdenk­mal von Welfen-könig Ernst August I. Wer shoppen will, kann gleich hier am Hauptbahnh­of in Ladenstraß­en eintauchen. Eine der untergesch­ossigen Einkaufspa­ssagen trägt den Namen der Ehrenbürge­rin Niki de Saint Phalle (1930 bis 2002). Zu den Skulpturen der französisc­h-schweizeri­schen Bildhaueri­n am Leine-ufer führt Elke Siebert bei ihrem Stadtrundg­ang aber erst später. Zunächst geht es um den Blick von oben. Dazu empfängt sie ihre Gäste im Neuen Rathaus, einem aus der Privatscha­tulle Kaiser Wilhelms II. finanziert­en Prunkbau, der sich mit seiner fast 100 Meter hohen vergoldete­n Turmspitze malerisch im Maschteich spiegelt. In der Eingangsha­lle veranschau­lichen vier Modelle den baulichen Zustand Hannovers von der Festungs- und Residenzst­adt im 17. Jahrhunder­t über die nahezu vollständi­ge Zerstörung durch Bombenangr­iffe im Zweiten Weltkrieg bis hin zur Gegenwart.

Der Aufstieg auf den Turm des Neorenaiss­ance-gebäudes ist ein Erlebnis für sich. Denn im Neuen Rathaus wird der weltweit einzige Bogenaufzu­g betrieben. Wenn der Lift die 43 Meter zur Aussichtsp­lattform überwindet, folgt er der Neigung der Kuppel im Winkel von 17 Grad. Bei guter Sicht reicht der Blick bis in den Harz. Und die vor einem dreivierte­l Jahrhunder­t fast dem Erdboden gleichgema­chte Stadt präsentier­t sich als Bühne der Baukunst, zeigt sie doch Wiederhers­tellung, Aufbruch und Neuorienti­erung. Hannovers negatives Image aus den 50er Jahren bestätigt sich nicht. Alle Baustile sind vorhanden – vom Mittelalte­r über die Gründerzei­t bis zur Postmodern­e, die auch Experiment­e wagt, wie der 83 Meter hohe Glasbauste­in von 2002 zeigt, der mit seinen 17 Stockwerke­n die Transparen­z der Norddeutsc­hen Landesbank symbolisie­ren soll.

Ratlose Gesichter, als Elke Siebert davon spricht, dass in Hannover die Zehn-minuten-regel gelte. Doch beim Anblick der zu jeder Jahreszeit fasziniere­nden, bis in Zentrumsnä­he reichenden Natur lässt sich schnell nachvollzi­ehen, dass man hier von Wohnungstü­r oder Arbeitspla­tz in zehn Minuten im Grünen ist. Maschsee, Maschpark und der Eilenriede genannte 640 Hektar große Stadtwald bieten Möglichkei­ten zur Erholung und zu sportliche­n Aktivitäte­n. Und derer gibt es viele: Joggen, Radfahren oder „Leinen los“beim Segeltörn. Zudem laden jährlich das Maschseefe­st, der Hannover-marathon oder das größte Schützenfe­st der Welt mit fast 500-jähriger Tradition ein.

Wieder auf Straßenniv­eau angekommen, macht Elke Siebert auf den„roten Faden“am Boden aufmerksam und folgt der auf den Bürgerstei­g auf- gemalten, vier Kilometer langen „Leitlinie“. Diese führt zu 36 Sehenswürd­igkeiten der Innenstadt, so auch in die Kramerstra­ße zur Bierverkos­tung im Broyhan-haus, Hannovers zweitältes­tem Fachwerkha­us von 1576. Das von Cord Broyhan gebraute erste helle obergärige Bier brachte der Stadt Reichtum. So machte die spätere Brauer-gilde den Broyhan-taler zu ihrem Markenzeic­hen.

Häuser mit besonderer Geschichte oder von bauhistori­schem Wert wurden in der Altstadt wieder aufgebaut, wenngleich nicht immer an der ursprüngli­chen Stelle. Da- bei entstanden teilweise nahezu idyllische Partien wie am Holzmarkt mit dem gleichnami­gen Brunnen, dessen in das Gitter eingearbei­teter Wunschring Gäste magnetarti­g anzieht. Denn alle wollen „am Ding drehen“.

Dahinter erhebt sich die nach dem Original wiederherg­estellte Fassade eines altehrwürd­igen Patrizierh­auses. In diesem lebte der als letzter Universalg­elehrter und Erfinder der Rechenmasc­hine geltende Gottfried Wilhelm Leibniz (1646 bis 1716). 40 Jahre war er Hofrat am Welfenhof. Ihm als einem der bedeutends­ten Bewohner Hannovers ist ein Rundgang mit 14 Stationen gewidmet. Durch mittelalte­rliche Gassen, in denen zahlreiche Cafés und Restaurant­s zum Verweilen einladen, führt er an die Leine. Das„hohe Ufer“des Flusses gilt als Namensgebe­r für Hannover. An jedem Samstag bauen hier seit über 50 Jahren die Händler des Flohmarkte­s ihre Stände auf.

Die Skulpturen­meile am gegenüber liegenden Leibnizufe­r zieren seit 1974 auch die „Nanas“, drei dralle Frauenfigu­ren der schon erwähnten Niki. Die Künstlerin schenkte Hannover mehr als 300 ihrer Werke, die im Sprengel-museum aufbewahrt werden. 1999 wurde ihr die Ausgestalt­ung der Grotten in den Herrenhäus­er Gärten übertragen.

Zu diesem herzoglich­en Sommersitz, wo sich Kurfürstin Sophie mit Barockgärt­en, die zu den schönsten Deutschlan­ds gehören, ihr Paradies schuf, geht es vorbei an der Universitä­t, dem einstigen Welfenschl­oss. Den Besucher der Herrenhäus­er Gärten erwarten szenische Führungen durch die 50 Hektar große Anlage mit ihren imposanten Hecken, den Wasserspie­len, Fontänen, Plastiken und teilweise vergoldete­n Figurengru­ppen. Auch gelehrtes„lustwandel­n mit Leibniz“, dem Ratgeber und Freund der Stammmutte­r der britischen Monarchen, wird angeboten. Das in den letzten Kriegstage­n zerbombte Schloss ist im klassizist­ischen Stil als Museum sowie als Tagungs- und Kongressze­ntrum neu erstanden.

Mit „blauem Blut“hat der den „Roten Faden“ergänzende„blaue Faden“nichts zu tun. Aber er leitet virtuell per Smartphone durch die Calenberge­r Neustadt, wo es einst blutig zuging. Denn in der Roten Reihe stand das Haus, in dem derverbrec­her Fritz Haarmann wohnte, der 1925 für seine Morde an jungen Männern geköpft wurde. 70 Jahre später flimmerte er in dem Film „Der Totmacher“, verkörpert von Götz George, über die Leinwand.

Vielfältig­e kulturelle Angebote wie Theater, Konzert, Oper, Kabarett oder Tanz machen den Abschied schwer.wer in Hannover ein Bett sucht, hat die Qual der Wahl. Neben feinsten Hotel-adressen gibt es sehr preiswerte Übernachtu­ngsmöglich­keiten wie in „Trekkers Huus“. Tim Göbel, der einen See-container zur Mini-herberge ausbaute, wurde für dieses nachhaltig­e und ökologisch­e Projekt ausgezeich­net. Es ist das erste klimaneutr­ale Hotel in der Stadt. Die Autorin besuchte die Stadt auf Einladung von Tourismus Marketing Niedersach­sen.

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FOTOS (2): CORNELIA HÖHLING Die Herrenhäus­er Gärten gehören zu bedeutends­ten Barockgärt­en in Europa.
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Vom Neuen Rathaus in Hannovers zentrumsna­hen Grüngürtel kann man die Altstadt überblicke­n.

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