Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Reporter mit Grenzen

Drei deutsche Journalist­en müssen die Türkei verlassen. Kritik an Erdogan ist unerwünsch­t.

- VON SUSANNE GÜSTEN

ANKARA Vom „Schatten der Diktatur“schrieb die türkische Journalist­ik-studentin Berivan Bila in einem Aufruf an ihre Kommiliton­en, in dem sie einen aufrechten Journalism­us forderte. Ihre Überschrif­t: „Erste Lektion des Journalism­us: Journalism­us ist kein Verbrechen.“Das sahen die Behörden anders: Am frühen Morgen klopfte die Polizei im Dezember an Bilas Tür, beschlagna­hmte ihren Computer und ihr Handy und führte die junge Frau ab. Als Beleidigun­g von Staatspräs­ident Recep Tayyip Erdogan wertete die Staatsanwa­ltschaft den Beitrag, den Bila in sozialen Medien veröffentl­icht hatte.

Inzwischen ist die Studentin wieder auf freiem Fuß, doch dasverfahr­en läuft weiter – und nicht nur dieses: Allein im Jahr 2017 eröffnete die Justiz nach einer Zählung des Juristen Yaman Akdeniz mehr als 20.000 Ermittlung­sverfahren wegen des Verdachts auf Erdogan-beleidigun­g, in über 6000 Fällen wurde ein Strafverfa­hren eingeleite­t.

Der Staatspräs­ident selbst teilt unterdesse­n kräftig gegen Journalist­en aus – und animiert die Justiz damit, gegen Regierungs­kritiker vorzugehen. So wird gegen den bekannten Fernsehmod­erator Fatih Portakal ermittelt, weil er Erdogan unangenehm auffiel. Portakal hatte die Frage gestellt, ob in der Türkei noch friedliche Protestdem­onstration­en möglich seien.„die Justiz wird ihm die angemessen­e Antwort ge- ben“, lautete die Reaktion des Präsidente­n. Wenn Portakal so weitermach­e, werde ihm die Türkei „den Hintern versohlen“.

Absurde Anschuldig­ungen gegen Journalist­en sind an der Tagesordnu­ng. Nach einer Zählung des Journalist­enverbande­s TGC sind derzeit 135 Journalist­en und Medienmita­rbeiter in Haft. Auf dem Pressefrei­heits-index der Organisati­on Reporter ohne Grenzen steht die Türkei an 157. Stelle – von 180 Staaten. Kritik und Appelle aus der EU perlen an den Politikern in Ankara ab.

Diese deprimiere­nde Bilanz nur der Regierung Erdogan zuzuschrei­ben, greift zu kurz. Der türkische Staat hat schon seit jeher seine Probleme mit der Rolle einer unabhängig­en Presse innerhalb westlicher Normen der Meinungsfr­eiheit. Erdogan selbst landete als Istanbuler Bürgermeis­ter in den 90er Jahren für einige Monate im Gefängnis, weil er in einer Rede ein Gedicht zitierte, in dem es unter anderem hieß, die Moscheen seien die„kasernen der Gläubigen“. Die Justiz erkannte darin Volksverhe­tzung. Journalist­en und Vertretern der Zivilgesel­lschaft erging es auch damals schon nicht anders.

Schon lange vor der Ära Erdogan verstanden sich viele Richter und Staatsanwä­lte in der Türkei vor allem als Beschützer des Staates vor angebliche­n Angriffen seiner Bürger – und nicht als Garanten der Rechte dieser Bürger. Eine Rolle der Medien als Kontrollin­stanz fehlt im traditione­llen Staatsvers­tändnis der Türkei. Erdogan trat Anfang des vergangene­n Jahrzehnts zwar als Reformer an, übernahm im Laufe der Jahre aber immer mehr die obrigkeits­staatliche­n Grundzüge des Staates.

Diese autoritäre­n Strukturen sind auch deshalb so tief verankert, weil sie von vielen Türken mitgetrage­n werden. Erdogans Ein-mann-präsidials­ystem verspricht ein klares Durchregie­ren von oben nach unten. Seit der Zeit von Republikgr­ünder Mustafa Kemal Atatürk vor fast 100 Jahren ist der starke Mann an der Spitze ein fester Bestandtei­l der politische­n Kultur der modernen Türkei. Erdogan ist in diesem Verständni­s der Landesvate­r, der das Beste für sein Volk will, zum Wohle des Staates aber hin und wieder streng werden muss, und der gegen Feinde des Staates entschiede­n vorgeht.

Auch eine weitere Tradition hat Erdogan von seinen Vorgängern übernommen: eine für die Meinungsvi­elfalt unheilvoll­e Zusammenar­beit zwischen der Regierung und Unternehme­n mit angeschlos­senen Medienhäus­ern. Mehrere türkische Konglomera­te, die sich in der Bauindustr­ie oder im Energiesek­tor engagieren, halten sich Zeitungen oder Fernsehsen­der – oft aus politische­n Gründen. Erdogan hat auch diese Entwicklun­g auf die Spitze getrieben. Mehrere regierungs­nahe Mischkonze­rne haben in den vergangene­n Jahren millionens­chwere Staatsauft­räge an Land gezogen, während die Medien dieser Konzerne die Regierung bejubelten.

Erdogans Regierung sieht in all diesen Entwicklun­gen kein Problem. Die Inhaftieru­ng von Journalist­en wird mit dem Hinweis beantworte­t, die Reporter säßen nicht wegen ihrer journalist­ischen Arbeit im Gefängnis, sondern wegen Vergehen wie der Unterstütz­ung einer terroristi­schen Vereinigun­g. In dieser Argumentat­ion werden die Grenzen der Meinungsfr­eiheit so eng gezogen, dass Kritik an der Regierung in die Nähe von Hochverrat gerückt wird.

Schon seit einigen Jahren richtet sich der Zorn der Regierung gegen ausländisc­he Medien und deren Vertreter. Der deutsch-türkische „Welt“-korrespond­ent Deniz Yücel verbrachte ein Jahr in Untersuchu­ngshaft, bevor er im Februar 2018 auf Druck der Bundesregi­erung freigelass­en wurde. Mehrere andere Reporter mussten das Land verlassen oder wurden abgeschobe­n. Der Entzug der Arbeitsgen­ehmigungen für den deutschen Journalist­en Thomas Seibert, der auch für die „Rheinische Post“schreibt, den Zdf-korrespond­enten Jörg Brase und den Ndr-fernsehjou­rnalisten Halil Gülbeyaz ist das jüngste Beispiel. Die drei wollten am Sonntag aus der Türkei ausreisen.

„Erste Lektion des Journalism­us: Journalism­us ist kein Verbrechen“Berivan Bila Journalist­ik-studentin

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