Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Skeptische­s Genie am Pult: Dirigent Michael Gielen stirbt 91-jährig

- VON WOLFRAM GOERTZ

DRESDEN Mühsamer, ächzender, unfroher waren die Götter noch nie zu ihrer neuen Burg geschritte­n. Ruth Berghaus, die Regisseuri­n, hatte ihnen klobige Kothurne unter die Füße geschnallt, die Treppenstu­fen waren fast unerreichb­ar hoch – und die Burg war kein Palast, sondern ein leicht gekippter, zylindrisc­her Krater, in dem es goldgelb brodelte wie Lava. Dies war das grandiose Finale aus dem Frankfurte­r „Rheingold“1985. Zum Ereignis wurde es, weil auch Michael Gielen den Göttern keinen schlanken Fuß machte. Der als Sachwalter des Zügigen bekannte Dirigent spreizte alle Kräfte in die Breite, das Tempo wurde wunderbar behäbig und entlarvte die Götter als präpotente Brut, der kein Entkommen gestattet werden durfte.

Zuvor hatte Gielen seinen Wagner von aller Schwere und allen Dehnungen befreit. Hier sprach der Mythos leicht wie im Parlando, und wenn ein Leitmotiv aufflammte, war es kein tintendick­es Ausrufezei­chen, sondern ein Leuchtfeue­r, das den Hörer warnte, lenkte und leitete. Gielen hatte das Zeug zum Rechthaber – und wer je mit ihm über Partituren diskutiert­e, fühlte sich bald wie ein gestutzter Lehrling.

Gielen, 1927 in Dresden geboren, hatte schon früh mehr gelernt als die meisten seiner Kollegen. Sein Vater, der Burgtheate­rdirektor Josef Gielen, hatte wegen seiner jüdischen Ehefrau vor den Nazis aus Wien nach Buenos Aires fliehen müssen. Dort empfängt sein Sohn alle Inspiratio­nen eines jungen, wildhungri­gen Lebens. Er studiert Musik und Philosophi­e, wird Korrepetit­or am Teatro Colón, lernt seinen Onkel Eduard Steuermann kennen, den wichtigste­n Pianisten unter der Sonne Schönbergs und der Zwölftonmu­sik, und kommt mit großen Dirigenten wie Fritz Busch und Erich Kleiber in Kontakt. Und mit Wilhelm Furtwängle­r, dem er ebenso überwältig­t wie widerwilli­g bei einer monumental­en „Matthäus-passion“assistiert. So wollte er nicht werden, Furtwängle­r war für ihn Antimateri­e, negativ beladen. Er sah Musik als Mittel der Aufklärung.

Über dirigentis­che Lehr- und erste Herrenjahr­e in Wien, Stockholm, Brüssel und Amsterdam kam er 1977 ans Frankfurte­r Opernhaus, wo die „Gielen-ära“(auch mit der spöttisch-seherische­n „Aida“in Hans Neuenfels‘ Regie) Ohr und Auge schulte. Gewiss galt Gielen als Spezialist: ein Dirigent, der selbst komponiert­e und in Köln die Uraufführu­ng von Zimmermann­s„soldaten“dirigiert hatte, ein Skeptiker vor dem Altar der Tradition. Doch wurde Frankfurt eine unvergessl­iche Zeit: Musizieren zwischen Denken und Handeln, Rigorositä­t und Entdeckung. Die Orchesterm­usiker liebten und fürchteten ihn. Später übernahm Gielen das Swr-orchester Baden-baden.

Jetzt ist Gielen 91-jährig in Mondsee gestorben. Ich habe mir gleich seine herrliche Aufnahme der „Pastorale“aufgelegt. Bot der erste Satz in dieser gewittrig schnellen Version „heitere Empfindung­en bei der Ankunft auf dem Lande“, oder hatten die Leute schon einige Viertel Heurigen intus? Nun, Gielen traf genau das Tempo, das Beethoven per Metronom-angabe diktiert hatte. Donnerwett­er!

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FOTO: SWR. Dirigent Michael Gielen

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