Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss
Cambridge 5 – Zeit der Verräter
Das war typisch für Cambridge, an dieser Exzentrik festzuhalten; es gab darüber sogar einen Roman von Clive James mit dem Titel „May Week was in June“. Hunt hatte ihn nie gelesen.
Dass seine Studenten ihr Geld für diese Bälle ausgaben, verwunderte ihn jedes Jahr. Ein Ticket kostete mindestens zweihundert Pfund, und das Geld wäre sicher besser in Forschungsreisen angelegt gewesen, aber es hatte keinen Sinn, mit Studenten über so etwas zu diskutieren. Sie wollten Spaß haben, und vielleicht sollte man ihnen das nicht verübeln. Für viele von ihnen würde es die letzte Möglichkeit sein, sich zu amüsieren. Die Arbeitswelt, die auf sie wartete, war alles andere als ein Vergnügen.
Wera, Jasper und David saßen erst seit ein paar Minuten in seinem Zimmer, und sie gingen ihm bereits auf die Nerven. Natürlich hatten die Jungs Wera vorgeschickt, um mit der Befragung zu beginnen. Wera, die ewig Wahrheitssuchende, die er anfangs für so unschuldig gehalten hatte.
„Professor Hunt, wir haben Hinweise auf Ihre Verwicklung in den Garden-house-aufstand gefunden.“
„Wird das ein Verhör, Wera? Ich habe Ihr Kapitel über die Philby-verhöre gelesen. Es ist nicht schlecht. Also was für Hinweise haben Sie in Bezug auf mich?“
Er merkte, dass er sie wieder durcheinandergebracht hatte. Sie versuchte gelassen zu wirken, aber ihre Stimme klang höher, als sie ihm antwortete.
„Sie waren damals mit Stef auf dem Dach, als ein Student und ein Proktor mit Steinwürfen schwer ver- letzt wur- den. Stef wurde dafür zur Verantwortung gezogen, Sie kamen davon. Wir glauben, dass es einen Provokateur bei der Revolte gab, der mit einem inszenierten Zwischenfall die Menge aufheizen sollte.“
„Und das war ich?“, fragte Hunt amüsiert.
Jasper schaltete sich jetzt ein, seine Stimme klang sehr viel aggressiver als Weras.
„Sie waren ganz links außen als Student, und dann, seit dieser Nacht, gaben Sie sich plötzlich bekehrt und wurden der politisch gemäßigte Buchautor, der Politiker interviewt und Zugang zu allen möglichen Interna in Whitehall hat.“
Hunt lächelte.„das nennt man erwachsen werden, Jasper.“
„Da sind wir anderer Meinung. Ein besseres Wort wäre Camouflage. Wir wissen aus dem Mitrochin-archiv, dass die Russen in den Siebzigerjahren mehrere britische Studenten rekrutiert haben. Der Student, der in Cambridge angeworben wurde, hieß Paddington.“„Paddington wie der Bahnhof?“„Wie der Bär“, antwortete Jasper. Hunt grinste. „Ich sehe aus wie ein Bär?“
Er war enttäuscht, wie wenig sie herausgefunden hatten. Nurvermutungen und vielleicht die Hoffnung, dass er, von Gram gebeugt, gestehen würde. Sie hatten sich geirrt.
„Kennen Sie die Geschichte von der westlichen Journalistin, Jasper, die in Afghanistan einheimische Frauen interviewt? Die Journalistin ist entsetzt, dass die Frauen mehrere Schritte hinter ihren Männern hergehen, und sie fragt eine Afghanin, warum sie das immer noch tun würden, obwohl sie doch jetzt endlich den Männern ebenbürtig seien.“
„Und was antwortet die Afgha- nin?“, fragte Jasper irritiert. „Landminen“. Wera lachte, aber Jasper wirkte entschlossen, Hunt nicht davonkommen zu lassen.
„Okay, das ist witzig, und was lernen wir jetzt daraus?“
„Vielleicht, dass afghanische Frauen Humor haben, oder vielleicht, dass nicht alles so eindeutig ist, wie es auf den ersten Blick erscheint.“
Jaspers Gesicht war vor Wut rot angelaufen. „Stef wusste, wer Paddington war, und er ist in Ihrem Zimmer umgebracht worden. Sie haben nicht mal ein Alibi für diese Zeit. Bis heute weiß kein Mensch, wo Sie waren!“
Hunt lächelte immer noch. „Jasper, es überrascht mich, welche hohen moralischen Ansprüche ausgerechnet Sie an dasverhalten anderer stellen. Ich war im Pub, leider. Darauf bin ich sicher nicht besonders stolz, aber Sie werden diese Schwächen gut kennen, Sie haben ja selbst ein Problem in dieser Richtung. Doch trotz eines kleinen Aussetzers bin ich mir ziemlich sicher, Stef nicht umgebracht zu haben.“
„Natürlich, dann war es also der Butler.“
„Sie sind nah dran, Jasper, und das ist ja sonst eher selten bei Ihnen. Der Butler ist ein gutes Beispiel, weil ihn niemand wahrnimmt. Er ist einfach nur Personal, er wird übersehen. Ich gebe Ihnen ein anderes gutes Beispiel dafür: das amerikanische Außenministerium in den frühen 1980er-jahren, in der Zeit, bevor alle manisch E-mails verschickten. Da gibt es Leute an der Spitze, die vertrauliche Berichte erhalten und schreiben. Man schickt die vertraulichen Berichte an eine kleine Gruppe Eingeweihter, immer per Ku- rier. Alles sehr sicher und diskret. Wie aber kann man als interessierter Außenstehender, sagen wir mal als Kgb-offizier, an solche Berichte herankommen? Man schaut sich zuerst einmal die Personalliste des Ministeriums an, man studiert die Hierarchien und die täglichen Abläufe. Und es wird klar, es gibt überraschenderweise nur einen Mann, der diese Berichte zwischen dem Außen- und dem Verteidigungsministerium hin- und hertransportiert. Einen Chauffeur. Und wie sich herausstellt, ist dieser Chauffeur ein sehr frustrierter Chauffeur. Seine letzte Gehaltsforderung ist abgelehnt worden, er hat Schulden und eine quengelnde Ehefrau zu Hause - die übliche Tristesse. Der KGB-OFFIzier versteht das, er kennt das selbst gut, seine Frau zum Beispiel, dreißig Kilo hat sie in den letzten Jahren zugelegt, ein echtes Monstrum et cetera et cetera. Er teilt sein Leid mit dem Chauffeur in irgendeiner Kneipe, in der sie sich „zufällig“kennengelernt haben. Sie werden Freunde. Und dann, nach einerweile, bittet er den Chauffeur, ihm einen Gefallen zu tun. Gegen gute Bezahlung natürlich. Könnte er vielleicht in Zukunft einen kleinen Umweg fahren, damit er ein paar Fotos von den Dokumenten machen kann? Nur einmal die Woche. Wenig Arbeit für viel Geld. Für einen Freund. Wer kann da widerstehen?“
„Das ist sicher eine wahre Geschichte. Aber was bringt uns das jetzt?“, fragte Jasper.
„Ich will damit sagen: Wenn Sie nach Stefs Mörder suchen, schauen Sie auf die unsichtbaren Leute, die Putzfrauen, die Au-pair-mädchen.“
Wera sagte es als Erste. „Polina?“
(Fortsetzung folgt)