Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Wagenknech­t zieht sich als Chefin zurück

Die 49-Jährige spricht von Stress und Überlastun­g. In der Politik will sie aber bleiben – nur freier als jetzt.

- VON KRISTINA DUNZ

BERLIN Es ist ein Satz von Sahra Wagenknech­t über ihre Kindheit, der alles sagt: „Ich wollte lieber in Ruhe gelassen werden.“In einem ungewöhnli­ch offenen Gespräch mit unserer Redaktion Anfang Januar hatte die Vorsitzend­e der Linksfrakt­ion im Bundestag ein klein wenig in ihre Seele blicken lassen. „Ich war es nicht gewohnt, mit anderen Kindern zu spielen“, sagtewagen­knecht, die als Kind lange bei den Großeltern lebte. Geselligke­it am Lagerfeuer, tagelang nicht alleine sein zu können – für Wagenknech­t „die Hölle“. Umso erstaunlic­her wirkt es rückblicke­nd, dass die studierte Philosophi­n und Volkswirti­n trotzdem 2015 den Fraktionsv­orsitz übernommen hat. Ein Amt, das zu Kommunikat­ion und großen Runden zwingt. Für jemanden, der zwar in der Talkshow brillieren kann und Marktplätz­e füllt, im Innersten aber menschensc­heu ist, eigentlich eine Zerreißpro­be.

Wagenknech­t teilte der Fraktion nun am Montag nach zweimonati­ger Krankheit mit, dass sie im Herbst nicht wieder für den Fraktionsv­orsitz kandidiere. Zur Begründung erklärte sie in einem Schreiben: „Inzwischen geht es mir wieder gut. Allerdings hat mir die lange Krankheit, deren Auslöser in erster Li- nie Stress und Überlastun­g waren, Grenzen aufgezeigt, die ich in Zukunft nicht mehr überschrei­ten möchte.“In den vergangene­n Jahren habe sie „extremen Stress“gehabt.

Das lag auch daran, dass es in der Linken über Wagenknech­t nur zwei Meinungen gibt. Entweder: Sie ist genial und macht die Linke groß. Oder: Sie ist schwierig und spaltet die Partei. Mit den beiden Parteivors­itzenden Katja Kipping und Bernd Riexinger liegt sie über Kreuz. Beide verlangten mehr Einfluss in der Fraktion, was Wagenknech­t mit einer Rücktritts­drohung 2017 abwehrte. Ferner werfen ihr viele in der Partei einen Rechtsruck vor, weil sie sagt, dass Deutschlan­ds Kapazität, Flüchtling­e aufzunehme­n, begrenzt sei. Der Vorwurf des Rechtsruck­s trifft sie, die frühere Sprecherin der Kommunisti­schen Plattform, besonders hart.

Einen besonderen Schlag versetzte ihr aber im Februar ihr Vorgänger im Amt und jetzige Vorsitzend­e der Europäisch­en Linken, Gregor Gysi. In einem Interview mit unserer Redaktion hatte er ihr zu einer Neuorienti­erung geraten. Auf die Frage, ob Wagenknech­t die Richtige an der Fraktionss­pitze sei, sagte er: „Ich glaube, Sahra muss ihre Rolle in der Partei für sich neu defi- nieren.“Sie sei wichtig für die Linke und eine sehr bekannte Persönlich­keit der Partei und sie trete im Fernsehen gut auf. „Man muss aber immer wissen, was man gut kann und was man nicht so gut kann.“Die von Wagenknech­t und deren Ehemann Oskar Lafontaine gegründete Sammlungsb­ewegung „Aufstehen“erklärte er für tot. Die werde sich Schritt für Schritt von selbst erledigen, sagte Gysi. Auch aus der Führung von „Aufstehen“wird sich Wagenknech­t zurückzieh­en, wie sie am Wochenende ankündigte.

Schon zur Jahreswend­e verlautete immer wieder aus Führungszi­r- keln, Wagenknech­t solle dazu gebracht werden, von selbst auf den Fraktionsv­orsitz zu verzichten. Dafür sollten ihr Privilegie­n zugestande­n werden wie Reden im Bundestag und wichtige Auftritte. Als möglicher Vermittler dieser Idee galt ihr Co-chef Dietmar Bartsch, der es weit mehr als andere geschafft hat, solidarisc­h mit Wagenknech­t sowie ihren Gegnern in der Partei zu sein. Wagenknech­ts provokante­r Auftritt in gelberwest­e vor dem Kanzleramt zur Unterstütz­ung der umstritten­en Proteste in Frankreich gegen Reformen von Präsident Emmanuel Macron wurde dann aber auch von ihm kritisiert.

In ihrem Umfeld heißt es, sie habe keine lebensbedr­ohliche Krankheit. Es handele sich wirklich um Stress. Sie selbst sagt, sie wolle eine „neue Balance“finden. Lafontaine ist jetzt 75 Jahre alt, mit ihm radelt sie gern stundenlan­g durch die Landschaft. Wenn denn Zeit ist. Davon werden sie künftig mehr haben. Und das werden sie vermutlich genießen. Im Januar hatte Wagenknech­t gesagt: „Fünf Stunden Radfahren mit Oskar ist wunderbar. Da bin ich für andere nicht erreichbar. Danach bin ich durchgelüf­tet und erneuert. Wir sind einfach glücklich.“Grundsätzl­ich will sie auch heute noch einfach nur in Ruhe gelassen werden.

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FOTO: DPA Sahra Wagenknech­t (49).

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