Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss
Wagenknecht zieht sich als Chefin zurück
Die 49-Jährige spricht von Stress und Überlastung. In der Politik will sie aber bleiben – nur freier als jetzt.
BERLIN Es ist ein Satz von Sahra Wagenknecht über ihre Kindheit, der alles sagt: „Ich wollte lieber in Ruhe gelassen werden.“In einem ungewöhnlich offenen Gespräch mit unserer Redaktion Anfang Januar hatte die Vorsitzende der Linksfraktion im Bundestag ein klein wenig in ihre Seele blicken lassen. „Ich war es nicht gewohnt, mit anderen Kindern zu spielen“, sagtewagenknecht, die als Kind lange bei den Großeltern lebte. Geselligkeit am Lagerfeuer, tagelang nicht alleine sein zu können – für Wagenknecht „die Hölle“. Umso erstaunlicher wirkt es rückblickend, dass die studierte Philosophin und Volkswirtin trotzdem 2015 den Fraktionsvorsitz übernommen hat. Ein Amt, das zu Kommunikation und großen Runden zwingt. Für jemanden, der zwar in der Talkshow brillieren kann und Marktplätze füllt, im Innersten aber menschenscheu ist, eigentlich eine Zerreißprobe.
Wagenknecht teilte der Fraktion nun am Montag nach zweimonatiger Krankheit mit, dass sie im Herbst nicht wieder für den Fraktionsvorsitz kandidiere. Zur Begründung erklärte sie in einem Schreiben: „Inzwischen geht es mir wieder gut. Allerdings hat mir die lange Krankheit, deren Auslöser in erster Li- nie Stress und Überlastung waren, Grenzen aufgezeigt, die ich in Zukunft nicht mehr überschreiten möchte.“In den vergangenen Jahren habe sie „extremen Stress“gehabt.
Das lag auch daran, dass es in der Linken über Wagenknecht nur zwei Meinungen gibt. Entweder: Sie ist genial und macht die Linke groß. Oder: Sie ist schwierig und spaltet die Partei. Mit den beiden Parteivorsitzenden Katja Kipping und Bernd Riexinger liegt sie über Kreuz. Beide verlangten mehr Einfluss in der Fraktion, was Wagenknecht mit einer Rücktrittsdrohung 2017 abwehrte. Ferner werfen ihr viele in der Partei einen Rechtsruck vor, weil sie sagt, dass Deutschlands Kapazität, Flüchtlinge aufzunehmen, begrenzt sei. Der Vorwurf des Rechtsrucks trifft sie, die frühere Sprecherin der Kommunistischen Plattform, besonders hart.
Einen besonderen Schlag versetzte ihr aber im Februar ihr Vorgänger im Amt und jetzige Vorsitzende der Europäischen Linken, Gregor Gysi. In einem Interview mit unserer Redaktion hatte er ihr zu einer Neuorientierung geraten. Auf die Frage, ob Wagenknecht die Richtige an der Fraktionsspitze sei, sagte er: „Ich glaube, Sahra muss ihre Rolle in der Partei für sich neu defi- nieren.“Sie sei wichtig für die Linke und eine sehr bekannte Persönlichkeit der Partei und sie trete im Fernsehen gut auf. „Man muss aber immer wissen, was man gut kann und was man nicht so gut kann.“Die von Wagenknecht und deren Ehemann Oskar Lafontaine gegründete Sammlungsbewegung „Aufstehen“erklärte er für tot. Die werde sich Schritt für Schritt von selbst erledigen, sagte Gysi. Auch aus der Führung von „Aufstehen“wird sich Wagenknecht zurückziehen, wie sie am Wochenende ankündigte.
Schon zur Jahreswende verlautete immer wieder aus Führungszir- keln, Wagenknecht solle dazu gebracht werden, von selbst auf den Fraktionsvorsitz zu verzichten. Dafür sollten ihr Privilegien zugestanden werden wie Reden im Bundestag und wichtige Auftritte. Als möglicher Vermittler dieser Idee galt ihr Co-chef Dietmar Bartsch, der es weit mehr als andere geschafft hat, solidarisch mit Wagenknecht sowie ihren Gegnern in der Partei zu sein. Wagenknechts provokanter Auftritt in gelberweste vor dem Kanzleramt zur Unterstützung der umstrittenen Proteste in Frankreich gegen Reformen von Präsident Emmanuel Macron wurde dann aber auch von ihm kritisiert.
In ihrem Umfeld heißt es, sie habe keine lebensbedrohliche Krankheit. Es handele sich wirklich um Stress. Sie selbst sagt, sie wolle eine „neue Balance“finden. Lafontaine ist jetzt 75 Jahre alt, mit ihm radelt sie gern stundenlang durch die Landschaft. Wenn denn Zeit ist. Davon werden sie künftig mehr haben. Und das werden sie vermutlich genießen. Im Januar hatte Wagenknecht gesagt: „Fünf Stunden Radfahren mit Oskar ist wunderbar. Da bin ich für andere nicht erreichbar. Danach bin ich durchgelüftet und erneuert. Wir sind einfach glücklich.“Grundsätzlich will sie auch heute noch einfach nur in Ruhe gelassen werden.