Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Der Theater-vordenker

Im April wird der Mülheimer Theatergrü­nder Roberto Ciulli 85 Jahre alt – und ist weiter produktiv: Gerade spielt er in Ibsens „Gespenster“.

- VON DOROTHEE KRINGS

MÜLHEIM/RUHR Osvald ist zurück. Als Kind gab die Mutter ihn in die Fremde. 20 Jahre ist das her. Die Mutter musste ihren Sohn vor dem Vater schützen, doch nun ist Osvald wieder da, ein Mann inzwischen, ein Maler. In seinem Familiendr­ama „Gespenster“beschwört Henrik Ibsen die dunklen Geister der Vergangenh­eit, noch ehe der verlorene Sohn die Bühne betritt. Doch dann kommt Osvald – und ist in der aktuellen Inszenieru­ng von Simone Thoma am Theater an der Ruhr kein junger Mann, kein 30-jähriger Abenteurer, sondern ein alter Herr mit langen weißen Haaren: Roberto Ciulli. Wie der dann von früher erzählt, die scheinbar harmlosen Erinnerung­en eines missbrauch­ten Jungen heraufbesc­hwört und sie sogleich entlarvt, indem er Sprache ausstellt, mit seinem italienisc­hen Akzent die Silben abtastet, jedes Wort nach seinem verborgene­n Sinn befragt, ist ein Erlebnis.

Roberto Ciulli ist ein außergewöh­nlicher Theatermac­her – als Regisseur, Darsteller, Theaterlei­ter. Gerühmt wird er für die Kraft seiner Bilder und die Poesie seiner Inszenieru­ngen. Er selbst sagt, der Kern des Theaters sei das Denken. Und Bilder im Theater seien dazu da, eine Explosion von Bildern im Kopf des Zuschauers auszulösen. Aufklärung mit sinnlichen Mitteln, könnte man sagen.

Um nach eigenen Regeln Theater zu machen, gründete der in Mailand geborene Ciulli zusammen mit dem Dramaturge­n Helmut Schäfer und dem vor kurzem gestorbene­n Bühnenbild­ner Gralf-edzard Habben 1980 das Theater an der Ruhr. Als Anti-stadttheat­er, das doch in einer Stadt verankert war. Eine Pionierbüh­ne – mit inzwischen 40 Jahren Tradition. Ciulli wird am 1. April 85 Jahre alt, doch man merkt es ihm nicht an, wenn er sich bei Ibsen auf einen Tisch setzt, die Beine baumeln lässt, ironisch bemerkt, wie schön es sei bei der Mutter. „Ich habe immer noch jeden Tag Lust, ins Theater zu fahren und zu spielen“, sagt er, „allerdings bin ich nicht so dumm zu glauben, dass das noch 20 Jahre so weiter geht.“

Ciulli ist ein leidenscha­ftlicher Theatermac­her, ein Charakterk­opf, kein Bühnenpatr­iarch. Das Theater an der Ruhr wurde von einem Kollektiv gegründet, es hat sich schon früh für Einflüsse aus anderen Kulturkrei­sen geöffnet, und so gibt es dort auch heute den Spielraum für Künstler mit eigener Theaterspr­ache. Dafür sind die„gespenster“ein Beispiel. Regisseuri­n Simone Thoma ist seit langem auch Darsteller­in in Mülheim, hat inzwischen mehrfach inszeniert. Ganz in der Tradition des Hauses lebt ihre Ibsen-inszenieru­ng von starken Bildern, die aus Motiven des Textes gewonnen sind: Geistermot­ive wie ein selbstspie­lendes Klavier etwa oder schwankend­e Kronleucht­er. Dazu schafft Thoma auf ihre Art Räume für die Darsteller, etwa durch ein ruhiges Tempo, das Konzentrat­ion für das Gesprochen­e fordert, oder durch Szenen, die ohne Text auskommen – nur den Darsteller­n gehören.

Auch die Ruhrfestsp­iele unter dem neuen Intendante­n Olaf Kröck fragen nun nach dem Besonderen an Mülheim und ehren das Theater mit einerwerks­chau. Drei Inszenieru­ngen aus Ciullis Repertoire sind in Recklingha­usen zu sehen. „Roberto Ciulli war der erste Theatermac­her in Nordrhein-westfalen, der die Idee eines interkultu­rellen Dialogs konsequent betrieben hat. Er hat sich und sein Theater an der Ruhr damit zu einem bedeutende­n Ort gemacht, an dem Welt-theater praktizier­t wurde und wird“, sagt Olaf Kröck und erzählt, dass er in den 1980er Jahren Gastspiele von Ciulli in der Viersener Festhalle sah und dass diese Inszenieru­ngen dazu beigetrage­n hätten, dass er sich intensiver mit Theater zu befassen begann.

Für Ciulli steht im Zentrum des Theatersch­affens das Denken

„Robertos Theater ist energetisc­h und bunt, auch dank seines Dramaturge­n Helmut Schäfer nie flach oder anbiedernd“, so Kröck.

Tatsächlic­h hat sich das Theater an der Ruhr schon früh in Länder gewagt, zu denen der Zugang nicht leicht fiel. In den Iran etwa. Die Bühne lädt auch regelmäßig Theaterleu­te und Musiker aus anderen Kulturkrei­sen ein, ihre Kunst in Mülheim zu zeigen. Austausch auf Augenhöhe wurde bei Ciulli schon gepflegt, lange bevor über postmigran­tisches Theater diskutiert wurde. „Wir haben damit angefangen, weil wir das Gefühl kannten, fremd zu sein im eigenen Land“, sagt Ciulli. Die Aufbrüche an deutschen Bühnen, etwa auch das Tanztheate­r von Pina Bausch, seien anfangs ja auf Widerständ­e gestoßen. Das sei heute fast vergessen. Und dann erzählt er von einem Gastspiel in den 1980er Jahren, bei dem von 900 Zuschauern, 600 den Saal verließen. 300 aber waren begeistert. „Wir haben damals Theater gemacht, wie es sein soll“, sagt Ciulli, „aber wir waren zu früh.“

Seine Kindheit hat Ciulli viel unter Erwachsene­n verbracht. Langweilig sei das gewesen, erzähl er, doch habe diese Langweile ihn zum Beobachter gemacht, aus Widerstand sei er zum Clown geworden. Dieser Clown drängt weiter auf die Bühne – ihm zu begegnen, ist ein Glück.

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FOTO: FRANZISKA GÖTZEN Petra von der Beek als Mutter Helene und Roberto Ciulli als ihr Sohn Osvald in Ibsens „Gespenster“, einer aktuellen Inszenieru­ng von Simone Thoma am Theater an der Ruhr.

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