Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss
Cambridge 5 – Zeit der Verräter
Hunt nickte. „Haben Sie sich jemals gefragt, warum ein intelligentes russisches Mädchen sich damit begnügt, kleine Monster für einen Mindestlohn zu hüten?“
David hatte bis zu diesem Zeitpunkt geschwiegen. Jetzt stellte er zum ersten Mal eine Frage. „Woher weißt du von Polina?“„Von jemandem, der Jenny gut kannte. Polina war erst seit ein paar Wochen auf dem Radar britischer Sicherheitsbehörden. Aber nicht nur auf deren Radar, nicht wahr, David?“Hunt sah David an, es war ein fast bittender Blick. „Du hast nie ganz verstanden, was Polina hier trieb, korrekt? Und weil du es nicht verstanden hast, wurdest du immer misstrauischer, und irgendwann war dir das alles zu unheimlich.“Davids Stimme klang jetzt tonlos. „Ich dachte, sie hat eine Affäre.“„Mit ihrem Gastvater?“, fragte Hunt.
„Ja, mit Plover. Aber ich habe nicht verstanden, warum. Was konnte er ihr bieten?“
„Was konntest du ihr bieten, David?“, fragte Hunt.
„Ja, vielen Dank, schon verstanden!“
Hunt wehrte ab. „Nein, nein, das war jetzt nicht ironisch gemeint, David. Professor Plover konnte Polina etwas bieten, und das konntest du auch: Zugang.“
Hunt konnte an Davids versteinertem Gesichtsausdruck sehen, dass er es ahnte. „Zugang zu was genau?“„Plover und Stef arbeiteten beide im Science Park an militärisch relevanten Forschungsprojekten, und diese Projekte sind für mehrere Nachrichtendienste interessant.“
Jasper mischte sich ein. „Es geht hier um Wirtschaftsspionage?“
Hunts Geduld neigte sich dem Ende zu, er hatte ganz eindeutig keine Lust, sich wieder mit Jasper beschäftigen zu müssen.
„Ist Ihnen das zu banal, Jasper? Polina ist nicht die Einzige, die sich zurzeit in der Nähe von universitären Forschungseinrichtungen und Hightechfirmen herumtreibt.
Sie war eben für den russischen Nachrichtendienst unterwegs, es hätte auch der chinesische sein können. Ich hatte von dieser Szene bis vor Kurzem auch keine Ahnung, aber sie scheint zu boomen.“
Jasper konnte es nicht fassen. „Sie hat bei all diesen Wissenschaftlern, deren Häuser sie putzte, die Schreibtische leergefegt? Und mit deren Söhnen gefickt?“
Wera reagierte überraschend schnell. Bevor David Jasper schlagen konnte, hatte sie seine beiden Arme in einer Art Umfesselung gepackt. Es war eine liebevolle, aber entschiedene Geste, die nur ein paar Sekunden andauerte. Jasper war viel zu aufgedreht, um es zu bemerken.
„Und warum ist Stef dann ausgerechnet in Ihrem Zimmer umgebracht worden?“
Hunt zuckte mit den Achseln. „Anscheinend hatte ich ihn eingeladen.“„Was?“„Man hat einen Brief von mir in Stefs Abfalleimer gefunden. Ich hätte nie gedacht, dass jemand meine unleserliche Handschrift kopieren kann.“
Jasper lachte. „Kein Mensch schreibt heute mehr Briefe!“
„Ich glaube, da irren Sie sich. Gerade weil heute alle E-mails und Telefonate überwachbar sind, greifen viele Leute wieder auf die siche- re Methode des Briefes zurück. Einen Brief von mir zu bekommen muss Stef eingeleuchtet haben. Er war ja selbst ein sehr vorsichtiger Mensch.“
Jasper schien nicht überzeugt. „Polina hätte ihn überall umbringen können. Warum der ganze Aufwand mit Ihrem Zimmer?“
„Ich nehme an, weil ich als Stefs alter Intimfeind galt. Es passte.“
Eine Weile herrschte Schweigen. Davids Stimme klang immer noch tonlos: „Sie hat ihn wegen ein paar Computerprogrammen umgebracht?“
Hunt schaute David besorgt an, er schien ihm nicht noch mehr zumuten zu wollen. „Nein. Sie hat es getan, um jemanden zu schützen.“„Wen?“, fragte David. „Das versuchen gerade ein paar Verhörspezialisten von Polina zu erfahren.“ 17. Juni 2015 New College Cambridge
Der Maiball war vorbei. Es war sechs Uhr morgens, und der Garten von New College glich einer Luxusmüllhalde, überall lagen Pappteller, Becher und leere Champagnerflaschen herum. Es würde ein Team von Collegeputzfrauen mehrere Tage beschäftigen, alles aufzuräumen.
Ein paar übermüdete Studenten schleppten sich über den Rasen. Sie hatten bis zum Schluss durchgehalten und wollten unbedingt auf dem Abschlussfoto, dem„survivors‘ Photo“, zu sehen sein. In vier, fünf Jahren, wenn sie gutbezahlte Anwälte oder Investmentbanker geworden wären, würden sie dieses Foto in ihren überteuerten Wohnungen in Notting Hill oder Camden Town aufhängen. Natürlich würde es nicht im Wohnzimmer prangen. Das war zu offensichtlich. Sie würden es ganz selbstironisch auf der Toilette platzieren, um zu zeigen, wie egal ihnen jeglicher Status war. Vielleicht gab es bis dahin auch noch ein Foto von ihnen mit dem neuen Premierminister oder irgendeinem sozial engagierten Hollywoodstar. Das würde sich ebenfalls gut auf dem Klo machen.
Jasper wusste noch nicht, ob er eine Wohnung in Washington oder London haben würde, aber er brauchte das Foto auf jeden Fall. Er wollte unbedingt in der ersten Reihe zu sehen sein, mit einer überdimensionalen Champagnerflasche im Arm. Auch wenn die Unterredung mit Hunt eine Enttäuschung gewesen war, hatte sich die Sache doch gelohnt. Die Polina-geschichte könnte er sicher an eine Zeitung verkaufen. Vielleicht war es der Beginn einer großen Karriere als investigativer Journalist.
Er winkte Wera und David zu. Sie hatten es abgelehnt, für das Abschlussfoto zu posieren, aber sie standen auf der Brücke von New College und schauten Jasper und dem Fotografen zu. Man hatte ein Gerüst aufgebaut, um die rund zweihundert Studenten aus der Vogelperspektive zu fotografieren, und der Fotograf gab mit einem Megafon Anweisungen. Ein paar der Studenten schienen zu betrunken zu sein, um irgendetwas davon zu verstehen, und legten sich einfach auf den Rasen. Sie mussten zur Seite geschoben werden, um das Gruppenbild nicht zu ruinieren.
(Fortsetzung folgt)