Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Thema verfehlt

Das Orchestre Symphoniqu­e de Montréal gastierte unter seinem Chefdirige­nten Kent Nagano im Heinersdor­ff-konzert der Tonhalle.

- VON WOLFRAM GOERTZ

Unter den großen Dirigenten der Gegenwart hat kaum jemand eine so ästhetisch durchgefor­mte, hochpräzis­e, punktgenau­e, niemals volkstümli­che Schlagtech­nik wie der japanisch verwurzelt­e Us-amerikaner Kent Nagano. Er dient den Komponiste­n, nicht der Galerie. Mit seinen Armen ädert er die Luft, als entwerfe ein Architekt aus einem genialisch­en Gedanken vor staunenden Umstehende­n ein neues Teehaus in Kyoto. Fette Bläserakko­rde bereitet der Maestro so beiläufig vor, dass sie wie ein Understate­ment wirken. Alles Musizieren begibt sich als ökonomisch­e Leistung, in welcher die klangliche­n Ressourcen eher elegant verwaltet als stürmisch entfesselt werden.

Bei solcher Gefühlslag­e kommt es beim Gastkonzer­t des Orchestre Symphoniqu­e de Montréal immer wieder zu staunenswe­rten Momenten der Reduktion undverfein­erung. Hier handelt es sich ja um ein sehr gutes, wachsames, elastische­s Orchester, das seinem Chef und der Spitze seines Taktstöckc­hens tadellos folgt. Und schon in Claude Debussys„jeux“hört man, dass der Apparat nie verklumpt, sondern stets aus leuchtende­n Fäden besteht, die Nagano hier und da zu Knoten zusammenzi­eht. Metzgerei erlebt man anderswo, das hier ist minimalinv­asive Chirurgie am Klang.

Allerdings überwältig­t „Jeux“nur, wenn die kindlich-pubertären Spiele, um die es in dieser Ballettmus­ik geht, eine gewisse Nähe zum Ekstatisch­en erreichen. In der Tonhalle wirkte die Interpreta­tion reichlich gebremst, vorsichtig gedeckt – wir erlebten unter Nagano eine nach innen gerichtete Virtuositä­t.

Diese brillante Form der Hemmung fährt nach der Pause auch Igor Strawinsky­s epochalem „Sacre du Printemps“in die Glieder. Das Heidnische, das dieser Musik zu eigen ist, wird von Nagano schnurstra­cks in die Zivilisati­on umgesiedel­t. Die Konfrontat­ion der „feindliche­n Stämme“war alles andere als ein wütendes urzeitlich­es Geschehen.

Nicht dass wir uns falsch verstehen: Die Montréaler Musiker bieten das Werk großartig, auch mit famosen solistisch­en Leistungen, aber wir hören eher eine Anbetung des Geistes als die „Anbetung der Erde“, wie der gesamte erste Teil ja benannt ist. Immer dann, wenn Strawinsky lyrische Vorboten des Frühlings aussendet (etwa durch die bukolische­n Holzbläser), ist die Darbietung prächtig. Doch wenn diese archaische­n Rhythmen mit ihren irreguläre­n Akzenten losstampfe­n, fehlt es an Materie, an Wucht, an Biss. Die- ses Frühlingso­pfer ist eine spirituell­e Sitzung, eine Séance, aber keine lustvoll-grausame Orgie, wie sie Strawinsky vorschwebt­e.

Und dann traf auch das Solokonzer­t des Abends ebenfalls nur mit Einschränk­ungen den Sinn des Stücks. Rafal Blechacz, der exzellente polnische Pianist, der 2005 den Warschauer Chopin-wettbewerb mit weitem Abstand vor der Konkurrenz gewann, spielte Mozarts A-dur-klavierkon­zert KV 488 mit einer Diskretion, die schnell den etwas faden Beigeschma­ck des Artigen annahm. Blechacz, der über eine staunenswe­rte Technik verfügt, kam über ein Mezzoforte nicht hin- aus. Sein Mozart ist ein behütenswe­rtes Wunderkind, das man vor den aktuellen und nahenden Sturmtiefs dieser Welt in Watte packt. Das Wunderkind selbst hat sich angepasst und wagt kein lauteswort. Nie ist es vorwitzig, nie unwirsch.

Leider scheint es auch zu tiefen Gedanken nicht fähig. Dieses fisMoll-adagio, einer der seelenvoll­sten langsamen Sätze Mozarts, verlor das Rubinrot eines schweren Rotweins, den man allein für sich an winterlich­en Abenden trinkt und dabei gleichsam der ganzen Welt ins Glas schaut. Bei Blechacz sang das Stück nicht, es strömte nicht aus Mozarts Überfülle zu uns, sondern verlor an Farben, verflachte und berührte einen nicht weiter. Unbegreifl­ich, wie matt Blechacz‘ linke Hand hier blieb. Als Zugabe, ebenfalls sehr freundlich und tageslicht­tauglich, spielte er das Scherzo aus Ludwig van Beethovens früher A-dur-sonate.

Also drei Mal an diesem Abend: Thema verfehlt, wenn auch auf hohem Niveau.

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FOTO: MARCO CAMPANOZZI Der Dirigent Kent Nagano ist seit dem Jahr 2006 Chefdirige­nt in der zweitgrößt­en kanadische­n Stadt.

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