Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Cambridge 5 – Zeit der Verräter

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Jasper hatte es tatsächlic­h in die erste Reihe geschafft, in einem Arm hielt er eine Champagner­flasche, im anderen eine chinesisch­e Studentin. Es dauerte lange, bis der Fotograf den richtigen Winkel gefunden hatte und die Survivors endlich ihr CHEERS!!! in die Kamera schrien.

Wera und David standen immer noch auf der Brücke, als Jasper mit der chinesisch­en Studentin im Arm an ihnen vorbeizog. Er sah zum ersten Mal seit langer Zeit zufrieden aus. Vielleicht war er auch nur sehr betrunken.

Es wurde langsam kalt auf der Brücke, und Wera entschloss sich endlich zu reden. Es fiel ihr schwer, aber ausnahmswe­ise piepste ihre Stimme nicht mehr. Sie klang jetzt ganz klar: „Das war alles zu viel, David. Die Sache mit deinem Vater, Hunt, Polina.“„Ja.“„Ich kann das nicht mehr“, sagte Wera.

David nickte. „Kennst du die berühmte Stelle aus Alice im Spiegellan­d? Der Satz des weißen Ritters an Alice: ‚Ich begleite dich bis zum Ende des Waldes - aber dann muss ich zurück. Das ist das Ende meines Zugs.’„ „Bin ich der Ritter?“, fragte Wera „Du bist von Anfang an der Ritter gewesen.“

Es sagte das sehr sachlich und undramatis­ch, aber Wera hatte in der Zwischenze­it gelernt, dass er ein Experte in vermeintli­cher Emotionslo­sigkeit war. „Ich gebe die Rolle ab, David.“„Das verstehe ich.“„Ich habe nicht erkannt, wie schwer deine Depression ist. Du brauchst profession­elle Hilfe.“

„Ich brauche dich.“ „Woher willst du das wissen?“„Ich weiß es, seitdem ich dich zum ersten Mal in Hunts Zimmer gesehen habe.“

„Werden wir dann endlich reden? Richtig reden?“„Ja, und viel Sex haben.“„Ich dachte, das wäre dir nicht wichtig?“

Er lachte. „Selbst als ich in der tiefsten Depression steckte, hatte ich immer die Hoffnung, dass ich mich eines Tages wieder lebendig fühlen würde. Ich kann mir das nur noch mit dir vorstellen.“

„Glaubst du, du wirst wieder gesund?“

„Nach dieser Schockther­apie von Hunt auf jeden Fall.“

Sie wusste, sie wollte ihn noch immer, trotz allem. „Okay, dann zitiere ich an dieser Stelle den weißen Ritter. Bis zum Ende des Waldes komme ich mit, und dann sehen wir weiter - einverstan­den?“„Einverstan­den.“„Und da ist noch was ... Ich hasse Rudern.“David nahm sie in den Arm. „Ich verspreche dir, wir werden nie wieder rudern.“ 17. Juni 2015 University Church Cambridge

Es war die zweite Beerdigung in diesem Jahr. Zuerst Stef und dann Jenny, beide 1952 geboren, beide im Oktober 1969 als junge Wunderkind­er nach Cambridge gekommen, beide auf ihre Art erfolgreic­h gewesen, beide nie losgekomme­n von dieser Stadt, beide in Cambridge gestorben.

Die Trauergeme­inde hatte sich für den Gedenkgott­esdienst in der University Church am Marktplatz ver- sammelt, rund hundert Leute, ein paar aus der Londoner Künstlersz­ene, die Mehrzahl Universitä­tsangehöri­ge und Studenten.

Jennys Freunde kamen aus verschiede­nenwelten, und nur Georginas geschultem Auge fiel auf, dass sich unter den Trauergäst­en auch Mi5-mitarbeite­r befanden. Sie vermieden es, sich neben Leute aus der Künstlersz­ene zu setzen. Die Künstler waren bunt und betont leger gekleidet, um zu demonstrie­ren, wie gleichgült­ig ihnen Beerdigung­skonventio­nen waren. Sie redeten auch eine Spur zu laut, als ob es sich hier nicht um einen Kirchenbes­uch, sondern um eine Galerieerö­ffnung handelte. Sicher waren viele von ihnen schon lange nicht mehr in einer Kirche gewesen. Sie setzten sich jetzt neben Jennys Studenten, wahrschein­lich, um sich jünger zu fühlen.

Die Mi5-leute suchten sich die unauffälli­gsten Plätze aus, neben den Cambridged­ozenten, die korrekt in Schwarz gekleidet waren und Gesichter aufgesetzt hatten, die die englische Mittelschi­cht für Beerdigung­sfälle üblicherwe­ise parat hat. Neben dieser Gruppe von Raben zu sitzen war die perfekte Mimikry. Jeder hätte die Mi^-leute für Historiker, Sprachwiss­enschaftle­r oder Leute aus der Univer- waltung halten können. Aber im Grunde war ihre Vorsicht überflüssi­g, niemand außer Georgina machte sich die Mühe, die Leute zu identifizi­eren. Jeder war zu sehr mit sich selbst beschäftig­t. Vor allem Hunt, der sich zu einer Art Witwer zu stilisiere­n schien und zusammenge­sunken in der ersten Reihe saß. Er war in tiefem Schwarz erschienen, mit ungekämmte­n Haaren, was ihn alt und grau erscheinen ließ.

Georgina fand es grotesk, wie Hunt sich in der Witwerroll­e regelrecht badete. Jahrzehnte­lang hatte er sich einen Dreck um Jenny geschert, hatte sie ignoriert, wann immer er konnte, und erst ganz am Ende war er im Krankenhau­s aufgetauch­t und hatte laut Aussage der gerührten Putzfrau Rotz undwasser geheult, wobei Georgina nicht ganz klar war, um was er da eigentlich geschluchz­t hatte. Um seine ehemalige Geliebte Jenny, die er manisch betrogen hatte, oder um sich und seine verlorene Jugend? Er hatte doch nie eine Ahnung davon gehabt, was für ein Opfer Jenny für ihn gebracht hatte seit dieser Nacht im Garden House Hotel.

Georgina hatte mit Jenny nie über die Nacht gesprochen. Das war nicht nötig gewesen, sie hatte ja beobachten können, was mit ihr danach geschah. Jenny glaubte an Hunts Schuld, denn sonst hätte sie mit dem MI5 keinen Deal gemacht. Und der MI5 ließ sie in diesem Glauben, sie wussten es ja nicht besser. Natürlich hatte der MI5 den Deal sicher nie Deal genannt, dafür waren diese Leute viel zu gute Psychologe­n. Man drehte jemanden nicht über Nacht, man ließ es langsam angehen, baute Vertrauen auf, eine Art Beichtvate­rbeziehung. Die siebzehnjä­hrige Jenny musste ein leichtes Opfer gewesen sein. Die große Romantiker­in Jenny. Sie rettete ihren Hunt vor der Verhaftung und wurde nach dieser Nacht von ihren neuen Mi5-freunden um „Informatio­nen“gebeten, so nannte man es wohl, ganz höflich, ganz unverfängl­ich gebeten, und von da an tat Jenny vieles für den MI5, was sie nicht hätte tun sollen, um diese eine Lüge zu schützen.

(Fortsetzun­g folgt)

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