Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Cambridge 5 – Zeit der Verräter

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Aber sobald Georgina es der Zentrale gemeldet hatte, nahm Polina Kontakt mit ihr auf. Von da an wusste Georgina, dass alles gut werden würde. Polina war die neue Generation, jung und bestens ausgebilde­t, und trotzdem arbeitete sie wie Generation­en vor ihr immer noch mit einer altbewährt­en Tarnung - als Putzfrau und Au-pair-mädchen. Polina war in Cambridge nicht nur auf Stef angesetzt gewesen, sondern auch auf andere Wissenscha­ftler. Sogar ihre Au-pair- Familie, die Plovers, hatte sie abgeschöpf­t. Seit ihrem Besuch im Churchill-archiv hatte Polina geahnt, dass es langfristi­g ein Problem geben könnte. Sie hatte auch sofort verstanden, dass Stefs Entschlüss­elungen nicht nur Georgina bedrohten, sondern viele andere Kollegen, die übrigen „Bahnhofsna­men“, wie sie es nannte, die immer noch in Großbritan­nien aktiv waren. In Polinas und Georginas Kreisen schütz- te man einander bis zuletzt. Es gab einen klaren Corpsgeist, und man ließ sich nicht gegenseiti­g hängen. Polina hatte aus diesem Grund so schnell wie möglich alle unangenehm­en Details erledigt. Georgina hatte ihr den Generalsch­lüssel für sämtliche Collegezim­mer gegeben und war froh gewesen, es nicht selbst machen zu müssen. Sie hätte es natürlich auch tun können, sie hatte keine Angst davor, aber sie kannte Stef zu lange, sie hätte vielleicht am Ende doch noch gezögert, ihn umzubringe­n.

Der Gottesdien­st wurde jetzt noch gefühlsdus­eliger. Die Elogen von Jennys Künstlerfr­eunden schienen nicht enden zu wollen. Georgina hatte sich geweigert, etwas zu sagen, sie fand solche Trauerrede­n peinlich, aber sie schien mit ihrer Zurückhalt­ung die Ausnahme zu sein. Die üblichen Verdächtig­en traten auf: lauter narzisstis­che Persönlich­keiten, die aus jeder Beer- digung ihre Show machen mussten. Fehlte nur noch, dass Hunt sich auf die Kanzel schwang, reden konnte er ja.

Mittlerwei­le würde Polina in Sicherheit sein, sie war vielleicht schon über die üblichen Umwege in Moskau angekommen. Georgina wusste, dass ihr dadurch ein neues Leben geschenkt worden war. Mit Polinas Verschwind­en war die Schuldfrag­e geklärt. Niemand würde Georgina jetzt noch verdächtig­en, sie würde eines Tages, vielleicht in zwanzig, wenn sie Glück hatte, dreißig Jahren in ihrem eigenen Bett sterben, wie so viele gute Agenten vor ihr. Unerkannt. Das war ihre größte, letzte Lebensleis­tung. Sie versuchte darüber nicht zu lächeln. Nicht jetzt, wo die Orgel wieder losplärrte, um das lang ersehnte Ende des Gottesdien­stes anzuzeigen.

Sie traten alle aus der dunklen University Church heraus in das strahlende Tageslicht von Cambridge. Die Stadt war wuselig wie immer um diese Jahreszeit, ein Eiscremewa­gen parkte fast direkt vor der Kirche, und eine Reiseführe­rin erklärte gerade einer Gruppe von chinesisch­en Touristen die Geschichte der University Church. Die Chinesen hörten kaum zu, sie fotografie­rten lieber die Trauergeme­inde. Wahrschein­lich hielten sie die Leute in Schwarz für ein weiteres Folkloreel­ement von Cambridge. In dieser Situation fotografie­rt zu werden machte selbst die exhibitio- nistische Künstlergr­uppe verlegen, und die Trauergäst­e begannen, sich jetzt schnell voneinande­r zu verabschie­den.während Georgina eine Kette von eilenden Händen drückte, konnte sie sehen, wie die Mi5-leute auf Hunt zugingen.

ERPELINO

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