Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss
„Schiedsrichter sind komplett gegen Videobeweis“
Als Unparteiischer wollte sich Babak Rafati (48) das Leben nehmen. Heute ist er Mentalcoach und kritisiert die Zustände imschiedsrichterwesen.
HANNOVER Dauer-ärger um den Videobeweis (VAR) und die Handspiel-regel – der Bundesliga droht im Endspurt ein Schiedsrichter-chaos. Das befürchtet auch Ex-referee Babak Rafati, der bis 2011 in der Bundesliga pfiff, ehe er sich wegen Leistungsdrucks, Stress und Mobbings das Leben nehmen wollte. Heute berät er Führungskräfte in Unternehmen und Fußballer als Mentalcoach. Der Kopf ist eine von vielen Baustellen im Schiedsrichterwesen, über die der 48-Jährige mit unserer Redaktion sprach. Herr Rafati, ab 2005 waren Sie Bundesliga-schiedsrichter, Ihre Karriere endete mit einem Selbstmordversuch Im November 2011. Wären Sie heute gerne Schiedsrichter? RAFATI Diese Zeit ist vorbei, und über sowas denke ich auch gar nicht nach. Das war eine schöne Zeit, nur die letzten beiden Jahre waren schlimm für mich, so schlimm, dass ich nur diesen Ausweg gesehen habe. Das gehört nun einfach zumeiner Biografie. Mir geht es sehr gut, und ich bin zufrieden mit dem, was ich habe. Grundsätzlich denke ich aber, dass es Schiedsrichter wegen des Videobeweises einfacher haben als früher. Das Gefühl hat man aber nicht, der Videobeweis sorgt für viel Ärger RAFATI An sich ist das aber eine gute Sache, wenn man sie richtig umsetzt. Aber das größte Problem ist ein anderes, das der gesamte deutsche Fußball hat. Um erfolgreicher zu werden, Spieler, Schiedsrichter, alle, müssen wir im mentalen Bereich arbeiten, und nicht schneller laufen oder besser sehen. Ich kann jetzt aus eigener Erfahrung sagen, dass mir das damals gefehlt hat. Das erkenne ich auch jetzt in meinem Job, in dem ich Unternehmen, Manager und Profifußballer coache, wie wichtig das ist. Man denkt immer, es geht nur um Zahlen, aber die Leute sind im Kopf blockiert. Der Bundestrainer Jogi Löw hat zuletzt auch gesagt, dass wir die kognitiven Fähigkeiten schulen sollten, er hat das erkannt. Das muss die Aufgabe für die Zukunft sein, auch für die Schiedsrichter. Das ist die erste Stufe. Und die zweite? RAFATI Das ist der Dfb-präsident. Da war mit Grindel einer in den vergangenen Jahren im Amt, der keine Ahnung vom Fußball hat. Erwar fachfremd und ein Fremdkörper im Fußball. Und so jemand entscheidet dann über Dinge, wie die Suspendierung vonwolfgang Stark alsvideoschiedsrichter. Das ist unmöglich. Probleme gibt es mit dem Videobeweis aber vor allem, weil falsche Entscheidungen getroffen werden. RAFATI Früher hat man den Schiedsrichtern auf dem Platz verziehen, weil Fehler menschlich waren. Heute wird ihnen nichts mehr verziehen. Früher wurden vielleicht doppelt so viele Fehler gemacht, aber heute wiegen diese deutlich mehr, weil die Erwartungshaltung durch den Videobeweis eine andere ist. Und da entsteht das nächste Problem im Kopf. Der Schiedsrichter am Monitor hat das Problem, dass er in Konkurrenz zu dem Schiri auf dem Platz steht. Die Schiedsrichter sind alle Konkurrenten, jeder will sich für die besten Spiele qualifizieren. Wenn er was übersieht, kommt der böse Präsident, und sägt ihn ab. Und wenn er eine Fehlentscheidung erkennt? RAFATI Dann bekommt der Schiri auf dem Platz die Nachricht und denkt sich:„lass mich doch mit dem Videobeweis in Ruhe.“Die Schiedsrichter sind eigentlich komplett gegen den Videobeweis. Früher war man eine eigene Persönlichkeit und hat entschieden, jetzt wird aus dem Darkroom im Kölner Keller entschieden, das mögen sie nicht. Also gehen die Referees schon genervt an den Monitor. RAFATI Genau, und dazu kommt dann auch noch, dass der VAR und der Hauptschiedsrichter vielleicht gar nicht gut miteinander können, sowas wissen die Funktionäre natürlich nicht. Unter Schiedsrichtern gibt es viele Feindschaften. Unsere vermeintlich Besten, Felix Brych und Felix Zwayer, sind ein Beispiel. Welche Nachteile sehen Sie noch? RAFATI Der Videobeweis hat dem Schiedsrichter ein großes Mittel genommen, nämlich Konzessionsentscheidungen. Das war ein Handwerkzeug, etwas Tolles für den Schiri, auch wenn das keiner zugeben will. Es gibt keine freie Hand mehr, die bräuchte ein Schiedsrichter aber. Ansonsten dürfte es dank der Technik keine entscheidenden Fehlentscheidungen mehr geben, aber das bekommen sie nicht hin. Der Umgang ist also das große Problem. RAFATI Ja, und dazu kommt, dass es nach wie vor Schiedsrichter gibt, die ihre Macht demonstrieren. Und deswegen kommt es auch häufig vor, dass sich nach dem Spiel die Leute so ärgern und nach Ausreden suchen, dem Schiri die Schuld geben. Die fühlen sich benachteiligt, auch wenn es vielleicht gar nicht so war. Weil wir nicht miteinander umgehen können. Und dieses Geschehene ist dann ja bei den Spielern und Trainern nicht vergessen, das nehmen die mit. Was ist zu tun? RAFATI Die Akzeptanz für die Entscheidung schafft man nur, indem man die Schiris regelmäßig zum Training schickt. Nehmen wir mich als Beispiel: Ich lebe in Hannover, dürfte also nie ein Spiel von Hannover 96 pfeifen. Dann sollte man mich doch vielleicht zweimal pro Woche dazu anweisen, bei ihnen im Training zu pfeifen. Dadurch schafft man erstens Vertrauen zwischen Spielern und Schiris, weil die merken, dass Schiedsrichter genauso Menschen sind. Wir sind zu distanziert. Und zweitens? RAFATI Man pfeift dann die Trainingsspiele und wenn solche strittigen Szenen sind, macht man eine kurze Pause und erklärt die Entscheidung, auch den Trainern. Das kann man dann auch hinterher den Medien erklären, die das transportieren. So wird man zur Einheit. Man muss es aber mal ausdiskutieren. Dann gehen die Spieler auch mal in die Spiele und sagen sich, dass die Schiedsrichter eigentlich ganz in Ordnung sind. Es wird immer Fehlentscheidungen geben, und so lange es so weitergeht, wird weiter so extrem darüber diskutiert. Es geht nicht um die Entscheidungen, sondern um den Umgang. Das will der Fußball noch nicht wahrhaben, weil keiner den ersten Schritt macht. Und ich sage, die Schiris sollten den ersten Schritt machen, weil die Vereine so viele wirtschaftliche Interessen haben. Die Schiris dagegen sind die, die immer den Ärger abbekommen. Und deswegen herrscht schon fast eine Feindschaft zwischen Schiedsrichtern und Vereinen. RAFATI Wenn es so weitergeht, haben wir bald Schiedsrichterberater in Vereinen. Die beispielsweise zu den Klubs gehen und Insidertipps auspacken, was sie in den Spielen berücksichtigen müssen oder spezielle Tv-sendungen mit Fehlentscheidungen. Das wäre überhaupt nicht gut, wenn das auch noch losgeht. Es ist eine gefährliche Entwicklung insgesamt, die selbst verschuldet ist. Ist der Schiedsrichter heute „die ärmste Sau“? RAFATI Wir machen ihnen das Leben schwer. Wenn ein Kind mit einer schlechten Note nach Hause kommt, sollte man es doch auch nicht beschimpfen, sondern darüber sprechen, wo das eigentliche Problem liegt. Die Diskussionsgrundlage muss sein, was insgesamt schiefläuft, das ist die fehlende Kommunikation, Akzeptanz und falsche Fehlerkultur. Ich bin gespannt, wann das endlich im Fußball ankommt. Was wäre Ihr Maßnahmenkatalog? RAFATI Es muss zunächst ein Dfb-präsident her, der Ahnung hat und aus der Fußball-szene kommt. Ein Lahm beispielsweise. Dann braucht man eine starke Schiedsrichterführung, die hinter dem Team steht und sich nicht von anderen reinreden lässt, so ist das nämlich leider derzeit unter Lutz-michael Fröhlich, der ein zu lieber Kerl ist. Wenn das Schiedsrichterwesen ausgegliedert würde, wäre diese Einmischung gar nicht möglich. RAFATI Die Professionalisierung muss her. Dann braucht man auch eine Vermarktung der Schiedsrichter, was da passiert im DFB ist dilletantisch. Das ist vergleichbar mit einem Zwei-kopf-unternehmen, nicht mit einem Dax-konzern. Es gibt eine Latte an Maßnahmen, man muss viel tun. Die Zukunft liegt aber darin, die Leute mental zu stärken. Die Balance zu bekommen, um das Umfeld und den Menschen zu verstehen. Kreisen Ihre Gedanken darum, sich das Leben zu nehmen? Sprechen Sie mit anderen Menschen darüber. Die Telefonseelsorge ist anonym, kostenlos und rund um die Uhr erreichbar. Die Telefonnummern sind 0800 / 111 0 111 und 0800 / 111 0 222.