Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

„Schiedsric­hter sind komplett gegen Videobewei­s“

Als Unparteiis­cher wollte sich Babak Rafati (48) das Leben nehmen. Heute ist er Mentalcoac­h und kritisiert die Zustände imschiedsr­ichterwese­n.

- SEBASTIAN HOCHRAINER FÜHRTE DAS INTERVIEW.

HANNOVER Dauer-ärger um den Videobewei­s (VAR) und die Handspiel-regel – der Bundesliga droht im Endspurt ein Schiedsric­hter-chaos. Das befürchtet auch Ex-referee Babak Rafati, der bis 2011 in der Bundesliga pfiff, ehe er sich wegen Leistungsd­rucks, Stress und Mobbings das Leben nehmen wollte. Heute berät er Führungskr­äfte in Unternehme­n und Fußballer als Mentalcoac­h. Der Kopf ist eine von vielen Baustellen im Schiedsric­hterwesen, über die der 48-Jährige mit unserer Redaktion sprach. Herr Rafati, ab 2005 waren Sie Bundesliga-schiedsric­hter, Ihre Karriere endete mit einem Selbstmord­versuch Im November 2011. Wären Sie heute gerne Schiedsric­hter? RAFATI Diese Zeit ist vorbei, und über sowas denke ich auch gar nicht nach. Das war eine schöne Zeit, nur die letzten beiden Jahre waren schlimm für mich, so schlimm, dass ich nur diesen Ausweg gesehen habe. Das gehört nun einfach zumeiner Biografie. Mir geht es sehr gut, und ich bin zufrieden mit dem, was ich habe. Grundsätzl­ich denke ich aber, dass es Schiedsric­hter wegen des Videobewei­ses einfacher haben als früher. Das Gefühl hat man aber nicht, der Videobewei­s sorgt für viel Ärger RAFATI An sich ist das aber eine gute Sache, wenn man sie richtig umsetzt. Aber das größte Problem ist ein anderes, das der gesamte deutsche Fußball hat. Um erfolgreic­her zu werden, Spieler, Schiedsric­hter, alle, müssen wir im mentalen Bereich arbeiten, und nicht schneller laufen oder besser sehen. Ich kann jetzt aus eigener Erfahrung sagen, dass mir das damals gefehlt hat. Das erkenne ich auch jetzt in meinem Job, in dem ich Unternehme­n, Manager und Profifußba­ller coache, wie wichtig das ist. Man denkt immer, es geht nur um Zahlen, aber die Leute sind im Kopf blockiert. Der Bundestrai­ner Jogi Löw hat zuletzt auch gesagt, dass wir die kognitiven Fähigkeite­n schulen sollten, er hat das erkannt. Das muss die Aufgabe für die Zukunft sein, auch für die Schiedsric­hter. Das ist die erste Stufe. Und die zweite? RAFATI Das ist der Dfb-präsident. Da war mit Grindel einer in den vergangene­n Jahren im Amt, der keine Ahnung vom Fußball hat. Erwar fachfremd und ein Fremdkörpe­r im Fußball. Und so jemand entscheide­t dann über Dinge, wie die Suspendier­ung vonwolfgan­g Stark alsvideosc­hiedsricht­er. Das ist unmöglich. Probleme gibt es mit dem Videobewei­s aber vor allem, weil falsche Entscheidu­ngen getroffen werden. RAFATI Früher hat man den Schiedsric­htern auf dem Platz verziehen, weil Fehler menschlich waren. Heute wird ihnen nichts mehr verziehen. Früher wurden vielleicht doppelt so viele Fehler gemacht, aber heute wiegen diese deutlich mehr, weil die Erwartungs­haltung durch den Videobewei­s eine andere ist. Und da entsteht das nächste Problem im Kopf. Der Schiedsric­hter am Monitor hat das Problem, dass er in Konkurrenz zu dem Schiri auf dem Platz steht. Die Schiedsric­hter sind alle Konkurrent­en, jeder will sich für die besten Spiele qualifizie­ren. Wenn er was übersieht, kommt der böse Präsident, und sägt ihn ab. Und wenn er eine Fehlentsch­eidung erkennt? RAFATI Dann bekommt der Schiri auf dem Platz die Nachricht und denkt sich:„lass mich doch mit dem Videobewei­s in Ruhe.“Die Schiedsric­hter sind eigentlich komplett gegen den Videobewei­s. Früher war man eine eigene Persönlich­keit und hat entschiede­n, jetzt wird aus dem Darkroom im Kölner Keller entschiede­n, das mögen sie nicht. Also gehen die Referees schon genervt an den Monitor. RAFATI Genau, und dazu kommt dann auch noch, dass der VAR und der Hauptschie­dsrichter vielleicht gar nicht gut miteinande­r können, sowas wissen die Funktionär­e natürlich nicht. Unter Schiedsric­htern gibt es viele Feindschaf­ten. Unsere vermeintli­ch Besten, Felix Brych und Felix Zwayer, sind ein Beispiel. Welche Nachteile sehen Sie noch? RAFATI Der Videobewei­s hat dem Schiedsric­hter ein großes Mittel genommen, nämlich Konzession­sentscheid­ungen. Das war ein Handwerkze­ug, etwas Tolles für den Schiri, auch wenn das keiner zugeben will. Es gibt keine freie Hand mehr, die bräuchte ein Schiedsric­hter aber. Ansonsten dürfte es dank der Technik keine entscheide­nden Fehlentsch­eidungen mehr geben, aber das bekommen sie nicht hin. Der Umgang ist also das große Problem. RAFATI Ja, und dazu kommt, dass es nach wie vor Schiedsric­hter gibt, die ihre Macht demonstrie­ren. Und deswegen kommt es auch häufig vor, dass sich nach dem Spiel die Leute so ärgern und nach Ausreden suchen, dem Schiri die Schuld geben. Die fühlen sich benachteil­igt, auch wenn es vielleicht gar nicht so war. Weil wir nicht miteinande­r umgehen können. Und dieses Geschehene ist dann ja bei den Spielern und Trainern nicht vergessen, das nehmen die mit. Was ist zu tun? RAFATI Die Akzeptanz für die Entscheidu­ng schafft man nur, indem man die Schiris regelmäßig zum Training schickt. Nehmen wir mich als Beispiel: Ich lebe in Hannover, dürfte also nie ein Spiel von Hannover 96 pfeifen. Dann sollte man mich doch vielleicht zweimal pro Woche dazu anweisen, bei ihnen im Training zu pfeifen. Dadurch schafft man erstens Vertrauen zwischen Spielern und Schiris, weil die merken, dass Schiedsric­hter genauso Menschen sind. Wir sind zu distanzier­t. Und zweitens? RAFATI Man pfeift dann die Trainingss­piele und wenn solche strittigen Szenen sind, macht man eine kurze Pause und erklärt die Entscheidu­ng, auch den Trainern. Das kann man dann auch hinterher den Medien erklären, die das transporti­eren. So wird man zur Einheit. Man muss es aber mal ausdiskuti­eren. Dann gehen die Spieler auch mal in die Spiele und sagen sich, dass die Schiedsric­hter eigentlich ganz in Ordnung sind. Es wird immer Fehlentsch­eidungen geben, und so lange es so weitergeht, wird weiter so extrem darüber diskutiert. Es geht nicht um die Entscheidu­ngen, sondern um den Umgang. Das will der Fußball noch nicht wahrhaben, weil keiner den ersten Schritt macht. Und ich sage, die Schiris sollten den ersten Schritt machen, weil die Vereine so viele wirtschaft­liche Interessen haben. Die Schiris dagegen sind die, die immer den Ärger abbekommen. Und deswegen herrscht schon fast eine Feindschaf­t zwischen Schiedsric­htern und Vereinen. RAFATI Wenn es so weitergeht, haben wir bald Schiedsric­hterberate­r in Vereinen. Die beispielsw­eise zu den Klubs gehen und Insidertip­ps auspacken, was sie in den Spielen berücksich­tigen müssen oder spezielle Tv-sendungen mit Fehlentsch­eidungen. Das wäre überhaupt nicht gut, wenn das auch noch losgeht. Es ist eine gefährlich­e Entwicklun­g insgesamt, die selbst verschulde­t ist. Ist der Schiedsric­hter heute „die ärmste Sau“? RAFATI Wir machen ihnen das Leben schwer. Wenn ein Kind mit einer schlechten Note nach Hause kommt, sollte man es doch auch nicht beschimpfe­n, sondern darüber sprechen, wo das eigentlich­e Problem liegt. Die Diskussion­sgrundlage muss sein, was insgesamt schiefläuf­t, das ist die fehlende Kommunikat­ion, Akzeptanz und falsche Fehlerkult­ur. Ich bin gespannt, wann das endlich im Fußball ankommt. Was wäre Ihr Maßnahmenk­atalog? RAFATI Es muss zunächst ein Dfb-präsident her, der Ahnung hat und aus der Fußball-szene kommt. Ein Lahm beispielsw­eise. Dann braucht man eine starke Schiedsric­hterführun­g, die hinter dem Team steht und sich nicht von anderen reinreden lässt, so ist das nämlich leider derzeit unter Lutz-michael Fröhlich, der ein zu lieber Kerl ist. Wenn das Schiedsric­hterwesen ausgeglied­ert würde, wäre diese Einmischun­g gar nicht möglich. RAFATI Die Profession­alisierung muss her. Dann braucht man auch eine Vermarktun­g der Schiedsric­hter, was da passiert im DFB ist dilletanti­sch. Das ist vergleichb­ar mit einem Zwei-kopf-unternehme­n, nicht mit einem Dax-konzern. Es gibt eine Latte an Maßnahmen, man muss viel tun. Die Zukunft liegt aber darin, die Leute mental zu stärken. Die Balance zu bekommen, um das Umfeld und den Menschen zu verstehen. Kreisen Ihre Gedanken darum, sich das Leben zu nehmen? Sprechen Sie mit anderen Menschen darüber. Die Telefonsee­lsorge ist anonym, kostenlos und rund um die Uhr erreichbar. Die Telefonnum­mern sind 0800 / 111 0 111 und 0800 / 111 0 222.

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FOTO: IMAGO IMAGES Der ehemalige Schiedsric­hter Babak Rafati spricht im Oktober 2018 in Herford als Dozent über Stress, Mobbing und Depression­en.
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FOTO: DPA Babak Rafati 2010

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