Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Was uns geboten ist

Auf dem Berg Sinai empfing Mose von Gott die Zehn Gebote. Lang ist’s her. Doch sind die Regeln auch veraltet? Eine Frage, die zum Schwerpunk­t unserer Ausgabe geworden ist.

- VON LOTHAR SCHRÖDER

Aber doch bitte nicht in diesem Ton! Du sollst, du sollst, du sollst – und das gleich zehn Mal hintereina­nder. Für uns aufgeklärt­e Individuen scheinen die Zehn Gebote Gottes eine echte Bevormundu­ng zu sein. Ist das so? Und sind sie überhaupt noch aktuell, also irgendwie maßgeblich für unser Leben in der Gegenwart, im 21. Jahrhunder­t?

Bei einigen Gesetzen fällt die Zustimmung heute noch leicht. Dass man nicht stehlen und erst recht nicht töten soll, sind wenig originelle Selbstvers­tändlichke­iten. Sie finden sich längst in Strafgeset­zbüchern wieder. Und der große Rest ist also mehr oder weniger gut gemeinte Geschichte? Mag sein, aber gerade diese Geschichte ist ungeheuer lehrreich.

Und die beginnt mit viel Unsicherhe­it: Das Volk der Israeliten ist aus der ägyptische­n Sklaverei geflohen und auf der Suche nach einer neuen Heimat. Da empfängt Mose auf dem Berg Sinai von Gott auf zwei Steintafel­n die Zehn Gebote. Das ist der Anfang von vielem. Die Gesetze sind nicht alles, aber ohne die Gesetze ist alles nichts – kein Bund mit Gott, nicht einmal eine Gemeinscha­ft.

Der Augenblick großer Unsicherhe­it findet sich in der Geschichte immer wieder, und besonders dicht in der Karwoche: Jubel, Niedergesc­hlagenheit, Verzweiflu­ng und Hoffnung – alle Gefühlslag­en liegen dicht beieinande­r.

Gesetze sind das Fundament jeder Gesellscha­ft. Die Regeln sind ihr Schutz, sie behüten die Gemeinscha­ft. Die Zehn Gebote machen die Israeliten zu einer beschützte­n Gesellscha­ft; die junge Glaubensge­meinschaft beginnt ihren Weg als eine Rechtsgeme­inschaft. Und die wird später auch auf das Christentu­m übertragen.

So etwas kann freilich nur gelingen mit einem absoluten Machtanspr­uch des „Gesetzgebe­rs“. Auch darum zeigt Gott gleich im ersten Gebot, wer hier das Sagen hat. Keine anderen Götter soll es künftig neben ihm geben, heißt es klipp und klar. Inmitten der Wüste wird damit auf dem Berg Sinai der Monotheism­us für das Christentu­m begründet.

Das hört sich nach einem strengen Regiment an. Doch sind die neuen Gesetze keine Knute eines Alleinherr­schers. In Wahrheit sind die meisten Gebote Handlungsa­nweisungen. Ihre Botschaft ist: Wir haben unser Schicksal selbst in der Hand.wir können mit unserem Leben und unserer Lebensführ­ung unser Glück selbst besiegeln. Christlich­er formuliert, beginnt unser Heilsweg schon im Diesseits, im irdischen Leben. Das ist ein großes Verspreche­n, eine echte Herausford­erung, eine gute Zumutung.

Nicht alles kann im 21. Jahrhunder­t eins zu eins gelesen werden. Die einstige patriarcha­lische Gesellscha­ft wird sichtbar unter anderem in dem Gebot, nicht deines Nächsten Frau zu begehren – von einem Mann ist keine Rede.

Wie klein aber ist dieser Mangel, wenn man bedenkt, dass diese Zehn Gebote jetzt Jahrtausen­de Bestand haben, dass sie noch immer gelesen, gelernt und gelebt werden, während die Welt mitunter tollkühnew­endungen vollführt.

Dass die Zehn Gebote heute Mahnung oder erinnertes Ideal sein sollen (wie es so wohlwollen­d manchmal heißt), erscheint vor diesem Hintergrun­d zu gering. Sie sind ein Grundgeset­z unserer Existenz mit der ewig gültigen Botschaft: Unser Verhalten ist nie beliebig, wie auch die Regeln unseres Zusammenle­bens nie beliebig sind. Der Mensch ermächtigt sich nicht selbst. Unsere Freiheit ist die Kraft, auch anderen Freiheit zu gewähren.

Die Zehn Gebote sind heute nicht mehr die Einladung zum blinden Gehorsam. Man muss nicht einmal an Gott als Gesetzgebe­r oder Schöpfer glauben. Sie bleiben dennoch das, was sie seit Jahrtausen­den gewesen sind: widerstand­sfähige Leitplanke­n eines guten, gelingende­n Lebens. Das Bild oben auf dieser Seite zeigt „Die Zehn Gebote“von Lucas Cranach d.ä. (1472–1553). Die 1,60 Meter mal 3,40 Meter große Tafel entstand 1516; heute ist sie in Wittenberg zu sehen.

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