Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss
Was uns geboten ist
Auf dem Berg Sinai empfing Mose von Gott die Zehn Gebote. Lang ist’s her. Doch sind die Regeln auch veraltet? Eine Frage, die zum Schwerpunkt unserer Ausgabe geworden ist.
Aber doch bitte nicht in diesem Ton! Du sollst, du sollst, du sollst – und das gleich zehn Mal hintereinander. Für uns aufgeklärte Individuen scheinen die Zehn Gebote Gottes eine echte Bevormundung zu sein. Ist das so? Und sind sie überhaupt noch aktuell, also irgendwie maßgeblich für unser Leben in der Gegenwart, im 21. Jahrhundert?
Bei einigen Gesetzen fällt die Zustimmung heute noch leicht. Dass man nicht stehlen und erst recht nicht töten soll, sind wenig originelle Selbstverständlichkeiten. Sie finden sich längst in Strafgesetzbüchern wieder. Und der große Rest ist also mehr oder weniger gut gemeinte Geschichte? Mag sein, aber gerade diese Geschichte ist ungeheuer lehrreich.
Und die beginnt mit viel Unsicherheit: Das Volk der Israeliten ist aus der ägyptischen Sklaverei geflohen und auf der Suche nach einer neuen Heimat. Da empfängt Mose auf dem Berg Sinai von Gott auf zwei Steintafeln die Zehn Gebote. Das ist der Anfang von vielem. Die Gesetze sind nicht alles, aber ohne die Gesetze ist alles nichts – kein Bund mit Gott, nicht einmal eine Gemeinschaft.
Der Augenblick großer Unsicherheit findet sich in der Geschichte immer wieder, und besonders dicht in der Karwoche: Jubel, Niedergeschlagenheit, Verzweiflung und Hoffnung – alle Gefühlslagen liegen dicht beieinander.
Gesetze sind das Fundament jeder Gesellschaft. Die Regeln sind ihr Schutz, sie behüten die Gemeinschaft. Die Zehn Gebote machen die Israeliten zu einer beschützten Gesellschaft; die junge Glaubensgemeinschaft beginnt ihren Weg als eine Rechtsgemeinschaft. Und die wird später auch auf das Christentum übertragen.
So etwas kann freilich nur gelingen mit einem absoluten Machtanspruch des „Gesetzgebers“. Auch darum zeigt Gott gleich im ersten Gebot, wer hier das Sagen hat. Keine anderen Götter soll es künftig neben ihm geben, heißt es klipp und klar. Inmitten der Wüste wird damit auf dem Berg Sinai der Monotheismus für das Christentum begründet.
Das hört sich nach einem strengen Regiment an. Doch sind die neuen Gesetze keine Knute eines Alleinherrschers. In Wahrheit sind die meisten Gebote Handlungsanweisungen. Ihre Botschaft ist: Wir haben unser Schicksal selbst in der Hand.wir können mit unserem Leben und unserer Lebensführung unser Glück selbst besiegeln. Christlicher formuliert, beginnt unser Heilsweg schon im Diesseits, im irdischen Leben. Das ist ein großes Versprechen, eine echte Herausforderung, eine gute Zumutung.
Nicht alles kann im 21. Jahrhundert eins zu eins gelesen werden. Die einstige patriarchalische Gesellschaft wird sichtbar unter anderem in dem Gebot, nicht deines Nächsten Frau zu begehren – von einem Mann ist keine Rede.
Wie klein aber ist dieser Mangel, wenn man bedenkt, dass diese Zehn Gebote jetzt Jahrtausende Bestand haben, dass sie noch immer gelesen, gelernt und gelebt werden, während die Welt mitunter tollkühnewendungen vollführt.
Dass die Zehn Gebote heute Mahnung oder erinnertes Ideal sein sollen (wie es so wohlwollend manchmal heißt), erscheint vor diesem Hintergrund zu gering. Sie sind ein Grundgesetz unserer Existenz mit der ewig gültigen Botschaft: Unser Verhalten ist nie beliebig, wie auch die Regeln unseres Zusammenlebens nie beliebig sind. Der Mensch ermächtigt sich nicht selbst. Unsere Freiheit ist die Kraft, auch anderen Freiheit zu gewähren.
Die Zehn Gebote sind heute nicht mehr die Einladung zum blinden Gehorsam. Man muss nicht einmal an Gott als Gesetzgeber oder Schöpfer glauben. Sie bleiben dennoch das, was sie seit Jahrtausenden gewesen sind: widerstandsfähige Leitplanken eines guten, gelingenden Lebens. Das Bild oben auf dieser Seite zeigt „Die Zehn Gebote“von Lucas Cranach d.ä. (1472–1553). Die 1,60 Meter mal 3,40 Meter große Tafel entstand 1516; heute ist sie in Wittenberg zu sehen.