Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Das tägliche Dilemma

Das Tötungsver­bot und das Strafgeset­z sind eng verbunden. Polizisten müssen täglich abwägen, wann ein Verstoß gegen das Gebot legal und notwendig ist.

- VON FRANK RICHTER

Lo tirzach“heißt es im zweiten und fünften Buch Mose in der Bibel. Aus dem Hebräische­n übersetzt bedeutet dies: „Du sollst nicht hinterhält­ig und heimtückis­ch töten.“Bis heute ist dieses fünfte Gebot ein Grundstein unseres modernen Strafgeset­zbuches. Den Mord, vorsätzlic­h begangen – aus Habgier und niedrigen Beweggründ­en – beschreibt das Gebot somit klar und eindeutig. Damit legt es die Grundlage für soziales und kulturelle­s Wachstum einer Gesellscha­ft. Nur wenn das Leben geschützt ist, kann sich ein soziales Miteinande­r entwickeln.

Von daher ist Mord eine Tat, die bis heute so geächtet wird, dass sie niemals verjährt. In der Wirkungsge­schichte des fünften Gebots zeigt sich, dass die Wurzeln jüdisch-christlich­er und humanistis­cher Ethik mit dem Strafgeset­zbuch verschmelz­en. Neben dem vorsätzlic­hen Töten kennt unser Strafgeset­zbuch viele weitere Straftaten, die sich aus juristisch­er Sicht mit Tötungsdel­ikten und ihrer Sanktionie­rung befassen.

In Form der Notwehr oder Nothilfe kann Töten sogar legal sein, um sein eigenes oder andere Leben zu retten. Aufgabe der Polizei ist es, die gesellscha­ftli

Beachtlich­e Erregung hat vor einigen Tagen Berlins Erzbischof Heiner Koch verursacht, als er in einem Satz die Worte „Freitagsde­mos“und „Jesus“in den Mund nahm. Koch habe Greta Thunberg, Anführerin der „Fridays for Future“-bewegung, mit Christus verglichen, war vielerorts zu lesen. Stimmte leider nur bedingt. „Mich erinnern die Freitagsde­mos ein wenig an die biblische Szene vom Einzug Jesu in Jerusalem“, hatte Koch gesagt, sich explizit auf die hohen Erwartunge­n des Volks am Palmsonnta­g bezogen und sogar hinzugefüg­t, er wolle Thunberg eben nicht „zu einem weiblichen Messias machen“. Koch verglich Phänomene,

Vchen Regeln zu schützen und Gefahren abzuwenden. Dabei gilt es, immer das mildeste Mittel einzusetze­n, um das polizeilic­he Ziel zu erreichen. Das wird nicht nur in der Ausbildung trainiert, sondern ist fester Bestandtei­l regelmäßig­er Fortbildun­gen. Wann breche ich Widerstand mit körperlich­em Zwang, wann setze ich Reizgas ein, wann greife ich zur Dienstwaff­e?

Jeder Polizist kann täglich in die Situation kommen, im Extremfall einen Menschen töten zu müssen. Wenn der Geiselnehm­er droht, seine Geisel zu töten, oder der Amoktäter wild um sich schießt. Auch dann handelt die Polizei im juristisch­en Rahmen von Notwehr und Nothilfe. Töten, um sich oder andere vor dem Tod zu bewahren. Polizisten haben aber keine Sonderrech­te, sondern müssen sich nach einem tödlichen Schuss einer staatsanwa­ltschaftli­chen Ermittlung stellen.

Nach juristisch­en Maßgaben mag es eindeutig sein, doch wie ist das Töten aus Notwehr ethisch zu bewerten? Die Polizei steht vor einem Dilemma: Sie muss Übles tun, um Übles zu verhindern; Gewalt einsetzen, um Gewalt zu begrenzen; töten, um Töten zu verhindern. Unsere Gesellscha­ft hat die Ausübung physischer Gewalt an Menschen delegiert, die zum Schutz der Gesellscha­ft ihren Kopf und ihren Körper hinhalten: unsere Polizei.

Wir versuchen, Polizisten darauf vorzuberei­ten – und nach jedem Schusswaff­eneinsatz wird eine psychosozi­ale Begleitung angeboten. Denn gerade die Menschen, die unsere Freiheit schützen, haben ein tiefsitzen­des Gespür dafür, dass Töten grundsätzl­ich verwerflic­h ist. Auch, wenn es in dieser Situation die Ultima Ratio war. Diesen Zwiespalt zu spüren und auszuhalte­n, erfordert ein fein justiertes Gewissen und die ständige Auseinande­rsetzung mit der besonderen polizeilic­hen Verantwort­ung. Die Ethik des fünften Gebotes ist in der täglichen Realität der Polizei nach wie vor aktuell und muss es auch bleiben.

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FOTO: DPA Frank Richter (Jahrgang 1959) ist seit 2015 Polizeiprä­sident in Essen und war von 2005 bis 2012 Vorsitzend­er der Gewerkscha­ft der Polizei NRW.

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