Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss
Freundlich die Wahrheit sagen
Der Mensch benötigt Vertrauensräume – in der Familie, im Freundeskreis und unter guten Kollegen.
Du sollst nicht falsch gegen deinen Nächsten aussagen. Das achte Gebot hat zunächst die Gerichtsverhandlung im Blick. Dort, wo eine Zeugenaussage belasten oder entlasten kann, wo eine Falschaussage zur nicht gerechtfertigten Verurteilung und damit in damaliger Zeit auch zum Todesurteil führen kann, kommt es besonders auf die Wahrheit an.
Doch schon Martin Luther lehrt uns im „Kleinen Katechismus“von 1529, dass es beim Gebot „nicht falsch Zeugnis reden wider deinen Nächsten“um mehr geht:„wir sollen Gott fürchten und lieben, dass wir unsern Nächsten nicht belügen, verraten, verleumden oder seinen Ruf verderben, sondern sollen ihn entschuldigen, Gutes von ihm reden und alles zum Besten kehren.“Es geht um eine Kultur der Wahrhaftigkeit.
Vier Gedanken dazu: Wir brauchen Vertrauensräume. In der Familie, im Freundeskreis, unter guten Kollegen erleben wir Verlässlichkeit, das offene Wort, auch wenn es mitunter schmerzt, können Schwächen und Fehler eingestanden werden. Den anderen nichts vormachen zu müssen, tut gut, auch wenn man nicht in der Öffentlichkeit steht. Wir lernen, die Wahrheit menschenfreundlich zu sagen. Und wer wünscht sich das nicht etwa in einem ernsten Arztgespräch? Und in der Politik? Sind nicht Machtstreben und Lüge Geschwister? Soll gerade deshalb ein Politiker das achte Gebot achten? Ja, im Ringen um Macht und öffentliche Zustimmung kann diewahrheit auf der Strecke bleiben. Kurzfristig mag sich dies lohnen. Doch ich erlebe auch etwas anderes: Überzeugendes Werben für eigene Vorschläge, das oft mühsame Ringen um Kompromisse und einen fairen Interessenausgleich gelingen vor allem, wenn die Beteiligten einander vertrauen, weil sie Verlässlichkeit bereits erlebt haben.
Gespräche lohnen nur, wenn der Handschlag am Ende wirklich gilt. Wer trickst, trickst sich am Ende selbst ins Abseits. Wahrhaftigkeit in der öffentlichen Debatte. Demokratie lebt vom Streit und vom gegenseitigen Respekt. Wenn „alternative Fakten“, offenes Lügen und rüder Ton das Klima notwendiger Auseinandersetzungen vergiften, nimmt die Demokratie Schaden. Zur Debatte gehört es – im Beispiel gesprochen –, einem populistischen, menschenfeindlichen Generalverdacht gegen alle Zuwanderer entschieden entgegenzutreten und zugleich Fehlentwicklungen durch misslungene Integration zu benennen, ohne gleich in eine bestimmte Ecke gestellt zu werden. Aufbauschen und unter den Teppich kehren – beides schadet der öffentlichen Debatte. Und der „Schiedsrichter“in der öffentlichen Debatte sind wir alle! Wer sich immer im Ton vergreift, hat unsere Stimme nicht verdient.
Ein tröstlicher, vorösterlicher Gedanke zum Schluss. Den biblischen Geboten stehen Geschichten zur Seite über Scheitern und Schuld, Reue, Vergebung und Neubeginn. Dank „Fehlerfreundlichkeit“etwas dazuzulernen, nennt man das heute. Gute Idee. Für die Familie und für den Arbeitsplatz. Und für die Politik? Man wird ja mal träumen dürfen.