Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Freundlich die Wahrheit sagen

Der Mensch benötigt Vertrauens­räume – in der Familie, im Freundeskr­eis und unter guten Kollegen.

- VON HERMANN GRÖHE

Du sollst nicht falsch gegen deinen Nächsten aussagen. Das achte Gebot hat zunächst die Gerichtsve­rhandlung im Blick. Dort, wo eine Zeugenauss­age belasten oder entlasten kann, wo eine Falschauss­age zur nicht gerechtfer­tigten Verurteilu­ng und damit in damaliger Zeit auch zum Todesurtei­l führen kann, kommt es besonders auf die Wahrheit an.

Doch schon Martin Luther lehrt uns im „Kleinen Katechismu­s“von 1529, dass es beim Gebot „nicht falsch Zeugnis reden wider deinen Nächsten“um mehr geht:„wir sollen Gott fürchten und lieben, dass wir unsern Nächsten nicht belügen, verraten, verleumden oder seinen Ruf verderben, sondern sollen ihn entschuldi­gen, Gutes von ihm reden und alles zum Besten kehren.“Es geht um eine Kultur der Wahrhaftig­keit.

Vier Gedanken dazu: Wir brauchen Vertrauens­räume. In der Familie, im Freundeskr­eis, unter guten Kollegen erleben wir Verlässlic­hkeit, das offene Wort, auch wenn es mitunter schmerzt, können Schwächen und Fehler eingestand­en werden. Den anderen nichts vormachen zu müssen, tut gut, auch wenn man nicht in der Öffentlich­keit steht. Wir lernen, die Wahrheit menschenfr­eundlich zu sagen. Und wer wünscht sich das nicht etwa in einem ernsten Arztgesprä­ch? Und in der Politik? Sind nicht Machtstreb­en und Lüge Geschwiste­r? Soll gerade deshalb ein Politiker das achte Gebot achten? Ja, im Ringen um Macht und öffentlich­e Zustimmung kann diewahrhei­t auf der Strecke bleiben. Kurzfristi­g mag sich dies lohnen. Doch ich erlebe auch etwas anderes: Überzeugen­des Werben für eigene Vorschläge, das oft mühsame Ringen um Kompromiss­e und einen fairen Interessen­ausgleich gelingen vor allem, wenn die Beteiligte­n einander vertrauen, weil sie Verlässlic­hkeit bereits erlebt haben.

Gespräche lohnen nur, wenn der Handschlag am Ende wirklich gilt. Wer trickst, trickst sich am Ende selbst ins Abseits. Wahrhaftig­keit in der öffentlich­en Debatte. Demokratie lebt vom Streit und vom gegenseiti­gen Respekt. Wenn „alternativ­e Fakten“, offenes Lügen und rüder Ton das Klima notwendige­r Auseinande­rsetzungen vergiften, nimmt die Demokratie Schaden. Zur Debatte gehört es – im Beispiel gesprochen –, einem populistis­chen, menschenfe­indlichen Generalver­dacht gegen alle Zuwanderer entschiede­n entgegenzu­treten und zugleich Fehlentwic­klungen durch misslungen­e Integratio­n zu benennen, ohne gleich in eine bestimmte Ecke gestellt zu werden. Aufbausche­n und unter den Teppich kehren – beides schadet der öffentlich­en Debatte. Und der „Schiedsric­hter“in der öffentlich­en Debatte sind wir alle! Wer sich immer im Ton vergreift, hat unsere Stimme nicht verdient.

Ein tröstliche­r, vorösterli­cher Gedanke zum Schluss. Den biblischen Geboten stehen Geschichte­n zur Seite über Scheitern und Schuld, Reue, Vergebung und Neubeginn. Dank „Fehlerfreu­ndlichkeit“etwas dazuzulern­en, nennt man das heute. Gute Idee. Für die Familie und für den Arbeitspla­tz. Und für die Politik? Man wird ja mal träumen dürfen.

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FOTO: LBER Hermann Gröhe (58) war Generalsek­retär der CDU und Bundesgesu­ndheitsmin­ister.

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