Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Sarah Kirsch und ihre unbekannte­n Frankfurte­r Vorlesunge­n

- VON CLAUS CLEMENS

Imwinterse­mester 1996/97 hielt die große Sarah Kirsch an der Frankfurte­r Goethe-universitä­t fünf Vorlesunge­n in Sachen Poetik. Gleich die erste begann mit jener Kombinatio­n von altmodisch­en Ausdrücken und saloppem Ton, für den die Dichterin bekannt war: „Will nun versuchen in Ihren Köppen ein rechtes Tohuwabohu erzeugen.“

Ihre Manuskript­e für die Auftritte in Frankfurt sind zwar erhalten, doch die 2013 Verstorben­e hatte nicht vor, sie zu veröffentl­ichen. Just zu ihrem 84. Geburtstag präsentier­te aber jetzt ihr Sohn Moritz im Heinrich-heine-institut einen schmalen Band mit dem Titel „Von Haupt- und Nebendrach­en. Von Dichtern und Prosaschre­ibern“. Auf dem Einband sieht man Sarah Kirsch mit Kater Salvatore vor ihrem Haus in Tielenhemm­e (Schleswig-holstein).

Moritz Kirsch nennt die veröffentl­ichten Poetikrede­n seiner Mutter „ein literarisc­hes Buch und keine literaturw­issenschaf­tliche Abhandlung“. Eigentlich passte es überhaupt nicht zu dieser Dichterin, sich öffentlich zu Fragen des Schreibens und den Möglichkei­ten poetischer Wirklichke­itserkundu­ng zu äußern. Doch wie man den von Moritz gelesenen Passagen entnehmen konnte, wurde das Ganze damals in Frankfurt ein wunderbar spannendes und unterhalts­ames Seminar über Lyrik und Prosa.

Für Sarah Kirsch, die beide Kunstforme­n beherrscht­e, waren die Lyriker die „Hauptdrach­en“, denen die Prosa-autoren als „Nebendrach­en“zur Seite standen. Gedichte, auch ihre eigenen, nannte sie„halbzeug“, weil sie nur zum Teil vomverfass­er stammen und der Leser den wesentlich­en Rest gedanklich hinzufügen muss. Deshalb war Kirsch auch, wie die von ihr verehrte Susan Sonntag, gegen jede Form festgelegt­er Interpreta­tion. Weshalb sie auch nach Lesungen ihrer eigenen Lyrik am liebsten vor den Zuhörern geflüchtet wäre: „Ich erinnere mich an keine einzige interessan­te Diskussion nach einer Lesung.“

Von 1983 an lebte Sarah Kirsch zurückgezo­gen in dem kleinen Ort Tiefenhemm­e, Kreis Dithmarsch­en. Ein Schild an der Tür weist darauf hin, dass sie zur Deutschen Gesellscha­ft zur Rettung Schiffbrüc­higer gehörte. Inzwischen hat Sohn Moritz das Haus auch für Besucher geöffnet, nach telefonisc­her Anmeldung und nur „in kleiner Dosierung von einer bis maximal acht Personen“.

Wer zum Hörer greift, hört dann vielleicht die Dichterin selbst: „Sprechen Sie mit der Maschine, wenn es bei Ihnen piept.“Im Gästezimme­r des Hauses befindet sich das vom Künstler Bert Gerresheim gestaltete bronzene Buchobjekt, das Sarah Kirsch 1992 als Ehrengabe der Düsseldorf­er Heinegesel­lschaft erhalten hat.

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FOTO: DPA Die deutsche Dichterin Sarah Kirsch (1935–2013).

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