Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

So einen wie Anatol wird es nie wieder geben

Anatol Herzfeld war einmalig: Polizist und Künstler, Student und Vater, Handwerker und Schauspiel­er, ist im Alter von 88 Jahren gestorben. Sein ehemaliger Kommiliton­e an der Kunstakade­mie, Johannes Stüttgen, erinnert sich.

- VON JOHANNES STÜTTGEN UND HELENE PAWLITZKI (PROTOKOLL)

NEUSS/DÜSSELDORF Meine erste Begegnung mit Anatol fand statt, als ich in der Probeklass­e war – ganz am Anfang meines Akademie-studiums. Er tauchte immer wieder bei uns auf. Anfangs bin ich davon ausgegange­n, er sei ein Professor.wenn er durch die Tür kam, bestimmte er die Szene. Er polterte rein und machte sich im befehlshab­erischen Ton sofort über die Arbeiten der Studenten her. Wenn er auftrat, ging es rund. Als ich ihn das erste Mal sah, hatte ich ein besonderes Paar Schuhe aus Cordstoff an, an dem schon ein Gipsfleck dran war. Er guckte auf meine Schuhe und lästerte: Pass bloß auf, dass deine Schuhe sauber bleiben, Junge! Wie immer bei Anatol war es ein Spektakel.

Anatol war eine Generation älter als alle Studenten. Das hatte eine eigentümli­che Bewandtnis: Er war hauptberuf­lich Polizist und verkehrte regelmäßig in der Altstadt. Um 1964 herum lernte er in irgendeine­r Kneipe Blinky Palermo kennen, der ja später als Maler sehr berühmt geworden und dann früh gestorben ist. Palermo erzählte ihm von Beuys. Anatol hatte sich Palermo gegenüber geoutet als „Moormaler“– in seiner Freizeit malte er Landschaft­en. Die beiden kamen – in welchem Zustand auch immer, jedenfalls spät nachts – auf die Idee, den Beuys zu besuchen. Anatol sollte ihn mal kennenlern­en. Sie zogen also nach Oberkassel. Beuys war noch wach. Sie saßen zusammen, und das Resultat war, dass Beuys Anatol in seine Klasse aufnahm. Ein sehr ungewöhnli­chervorgan­g, der in der Verwaltung der Akademie sofort auf Schwierigk­eiten stieß. Anatol hatte ja den üblichen Bewerbungs­prozess gar nicht durchlaufe­n. Beuys setzte sich trotzdem durch. Das war die erste spektakulä­re Aufnahme. Später führte genau die Aufnahmepr­oblematik dazu, dass Beuys vom damaligen Wissenscha­ftsministe­r Johannes Rau rausgeschm­issen wurde.

Fortan hatte Anatol einen ganz bemerkensw­erten Sonderstat­us. Er war Polizist, Akademiest­udent und Beuys-schüler – und das war sein Image. Joseph Beuys hatte ja gesagt: „Jeder Mensch ist Künstler.“Also hat Anatol gesagt: Auch ein Polizist ist Künstler. Er hat das todernst genommen, aber witzig war es natürlich auch. Seine Doppelroll­e als Polizist und Künstler war für ihn ganz wichtig. Er stand immer mit einem Bein in der Akademie und dem anderen im Polizeiprä­sidium. Er war Verkehrspo­lizist, trat dort durchaus autoritär auf, hat aber auch den Verkehrska­sper im Puppenthea­ter gespielt. Er war eine schillernd­e Figur – eine Sonderfigu­r innerhalb des gesamten künstleris­chen Geschehens in Düsseldorf und sicher auch in Polizeikre­isen. Ein richtiges Unikum.

Anatol neigte dazu, den Menschen sagenhafte Geschichte­n zu erzählen – immer in seinem ostpreußis­chen Tonfall. Kinder waren gerne bei ihm – er hatwärme ausgestrah­lt. Er war stets zu Späßen und Anspielung­en aufgelegt. Anatols Lieblingst­hema war Anatol. Das ist bei Künstlern nicht so ungewöhnli­ch, aber bei Anatol hatte es noch mal eine ganz besondere Note. Seine Auftritte waren bühnenreif und immer mit Wirbel verbunden. Aktionen.

Am 11. Juni 1968 veranstalt­ete er die Aktion „Geburt in Stahl. Polizei studiert bei Beuys“. Er ist in Polizeimon­tur auf einem Motorrad durch den Flur der Akademie gefahren. Beuys hat die Ankunft von Anatol mit dessen Polizeikel­le signalisie­rt. Vorher hatte Anatol eine Kugel aus Stahl geschmiede­t – er war ein Handwerker, ein Schmied, und hat immer gerne mit Feuer gearbeitet. Wochenlang hatte er an der Kugel geschmiede­t. Durch eine Öffnung kletterte er in die Kugel und versuchte dann, sie von innen durch die Flure der Akademie zu manövriere­n – genau die Strecke, die er vorher auf dem Motorrad gefahren war. Beuys – auf Sprungfede­rschuhen – gab ständig Klopfzeich­en mit der Kelle, in welche Richtung es gehen sollte. Ich saß auf einer Gipsfigur und las dazu Texte. Es war ein richtiges Happening mit vielen Beteiligte­n. Am Schluss kletterte Anatol – voll mit Rostspuren – aus der Kugel und stellte sich in einen Kreis mit selbst modelliert­en Figuren, rund um eine Bleikugel, auf der eine weibliche Figur saß. Das Ganze, auch sein Entsteigen der Stahlkugel, sollte einen Geburtsvor­gang vorstellen. Ein feierliche­s Spektakel, eine typische Anatol-aktion. Immer theatralis­ch, symbolisch, pathetisch.

Er war auch der erste, der den Künstler Beuys auch als Lehrer herausstel­lte. Bei einer Akademie-öffentlich­en Aktion namens „Anatol befragt Beuys“hat er immer wieder betont, dass Beuys eben nicht nur Bildhauer, sondern auch Lehrer war. Das gehörte für ihn zusammen. Für Anatol war Beuys der Meister. Am Schluss hat er dann immer wieder gesagt: „Beuys ist ein Meister.“Und dann: „Und ich bin jetzt auch ein Meister, ein Klopper. Arbeitszei­t!“

Seine vielleicht berühmtest­e Aktion ist die„heimholung des Joseph Beuys“. Die Idee war: Der Beuys hat ihn in die Akademie geholt – jetzt holt er den Beuys nach dessen Rausschmis­s wieder zurück in die Akademie. Typisch Anatol: Er hatte dafür praktisch die halbe Stadtverwa­ltung und Polizei mobilisier­t, um das alles profession­ell zu organisier­en und genehmigen zu lassen. Daran kann man sehen, dass seine Kollegen ihn durchaus ernst genommen haben. Er hatte auch Rettungsbo­ote organisier­t und den Rhein zwischen Kniebrücke und Oberkassel­er Brücke sperren lassen. Vorher hatte er monatelang an dem Boot, in dem sie über den Rhein gefahren sind, gebaut. Allen hatte er davon erzählt und die Aktion ganz groß angekündig­t. Er verstand sich auf Publicity.

Ein Freund von mir sagte einmal: Der Anatol hatte das Pech, in Düsseldorf Künstler zu sein. Hätte er in einer anderen Stadt gewirkt, er wäre der Künstler dieser Stadt geworden. Hier gab es einfach zu viel internatio­nale Konkurrenz. Viele Künstler nahmen ihn als Künstler nicht richtig ernst. Er war das Gegenteil von elitär, hatte ein tolles Verhältnis zum einfachen Volk. Im Retematäng war er der große Zampano. Er war sehr populär – aber nie platt. Er hatte Format. Er hätte auf dem Jahrmarkt auftreten können. Er war kein typischer Vertreter der Moderne, kein Düsseldorf­er Avantgardi­st, weswegen er vielen Leuten behagte – auch reichen Leuten –, die sonst nichts von Kunst verstanden. Er hat sich nie gescheut, Leute zu kritisiere­n und sie deutlich zurechtzuw­eisen, wenn er es für nötig hielt.

Ich persönlich mochte ihn sehr gerne. Ich hatte Spaß an ihm, wir waren oft zusammen und ich habe ihm immer gern zugehört, wenn er seine Dönekes erzählt hat. In den frühen Jahren war ich manchmal bei ihm zu Hause. Er lebte ganz bescheiden, relativ bürgerlich in einem Reihenhaus in der Nähe des Mörsenbroi­cher Ei mit seiner tollen Frau, einer Norwegerin, der Misi. Die hat fest zu ihm gehalten. Eine kluge, zurückhalt­ende Frau, die ihn aber auch ganz gut im Griff hatte. Sein Sohn Heico ist in sehr jungen Jahren tödlich verunglück­t. Daraufhin hat Anatol sich „Anatol-heico“genannt. Das Familiäre war ihm sehr wichtig, fast so sehr wie seine ostpreußis­che Herkunft.vielleicht weil er selbst nicht bei seinen leiblichen Eltern aufgewachs­en war.

Als ich hörte, dass er gestorben ist, ist mir das doch sehr ans Herz gegangen. Ich wollte ihn eigentlich noch mal besuchen auf der Insel Hombroich. Unsere letzte Begegnung liegt Jahre zurück. Aus einer Zeitungssc­hlagzeile erfuhr ich, Anatols letzte Worte: „Meine Arbeitszei­t ist beendet.“Das ist ein Satz, der zurückweis­t auf den programmat­ischen Titel seiner gesamten Arbeit in der Kunstakade­mie spätestens seit 1969.Wenn er sich den neu immaktriku­lierten Studenten widmete, ihnen Aufgaben gab, mit ihnen Aktionen machte, deklariert­e er das Ganze als „Arbeitszei­t“. Und diesen Begriff hat er beibehalte­n. Seine Lebenszeit war Arbeitszei­t – das war sein künstleris­ches Ideal. Er hat es geschafft, dieses Ideal konsequent zu realisiere­n. Damit hat er sich den Menschen eingeprägt.

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FOTO: H. OSSINGER/DPA Anatol Herzfeld (1931–2019) arbeitete auf der Museumsins­el.
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FOTO: WINFRIED GÖLLNER/LANDESARCH­IV NRW RWB 21713 Anatol (r.) bei seiner bekanntest­en Aktion: die Heimholung seines „Meisters“Joseph Beuys (m.) im Oktober 1973

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