Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss
„Mich entsetzt die Kaltherzigkeit der Koalition“
Der Grünen-chef über das Klimapaket der Bundesregierung, eine nötige Investitionsoffensive und die Reform der Schuldenbremse.
BERLIN Robert Habeck kommt entspannt zum Interview. Das Gespräch mit dem Grünen-vorsitzenden führen wir schon vor dem Tag der Klimaschutzbeschlüsse der Regierung. Habeck will an diesem Freitag mit der „Fridays for Future“-bewegung für mehr Klimaschutz demonstrieren. Die Fragen zum Klimapaket schieben wir später nach. Herr Habeck, wie bewerten Sie im Großen und Ganzen das Klimaschutzpaket der Bundesregierung? Ist das der erhoffte große Wurf? HABECK Nein. Mich entsetzt die Kaltherzigkeit, mit der die Bundesregierung eine klimapolitische Wende verweigert. Ich war auf der Demo, als die ersten Ergebnisse durchsickerten. Die Leute um mich herum waren schlicht fassungslos. Sie hatten Tränen in den Augen, vor Enttäuschung und Wut. Die große Koalition wendet sich damit von den Pariser Klimazielen ab. Und sie zerstört die Hoffnung all der Menschen, die hier monatelang gekämpft haben. Aber vor lauter Selbstbeschäftigung hat die Regierung offenkundig nicht daran gedacht, wie ihr Agieren nach außen wirkt und wem sie verpflichtet ist. Der Ausbau der erneuerbaren Energien soll beschleunigt werden. Ist das nicht eine gute Nachricht für die Grünen? HABECK Beschleunigt? Nicht im Ernst. Der Windkraftausbau an Land wird faktisch unmöglich. Damit würgt die Bundesregierung eine Zukunftsbranche ab. Bei der Sonnenenergie bleibt sie jeden praktischen Schritt schuldig. Dabei gibt es doch eine zwingende Logik: Ohne Erneuerbare energien gibt’s keinen Klimaschutz, keinen Kohleausstieg, keinen Strom für Elektroautos. Das ist das kleine Einmaleins der Energieversorgung. Um den Co2-preis hat die Koalition am meisten gerungen. Was halten Sie vom hier erzielten Ergebnis? 2021 sollen Benzin und Diesel um drei Cent teurer werden, bis 2026 dann um zehn Cent. HABECK Dieser Co2-preis ist kein Preissignal, sondern wieder nur pillepalle. Er kommt zu spät und ist mit drei Cent pro Liter Benzin als Einstieg viel zu schwach. Es ist etwa der Unterschied zwischen acht und zehn Uhr an der Tanke nebenan. Der großen Koalition ging es darum, Wirtschaft und Verbraucher nicht zu sehr mit Kosten zu belasten, um den gesellschaftlichen Frieden nicht zu gefährden wie in Frankreich, wo die Gelbwesten Emmanuel Macron das Leben schwer machen. Ist das nicht der richtige Ansatz? HABECK Nein, aus Angst nichts zu tun, ist der falsche Ansatz. Ja, Klimaschutz, Wirtschaft und Soziales gehören zusammen. Deshalb haben wir immer gesagt, es braucht erstens einen Preis, der ein klares Signal zur Umkehr gibt: Klimaschädliches Wirtschaften wird bestraft, klimafreundliches lohnt sich. Und zweitens sollten die Einnahmen aus der Besteuerung vollständig an die Menschen zurückgegeben werden. Hat übrigens auch die SPD versprochen. Aber jetzt gibt es nicht mal den vollständigen sozialen Ausgleich, sondern nur 70 Cent Strompreissenkung pro Monat für eine Durchschnittsfamilie – und mehr Geld für gut verdienende Pendler. Die SPD hat ein sektorspezifisches Monitoring durchgesetzt, das heißt, jeder Bereich soll jährlich nachweisen, ob er seine Ziele zur Co2-reduktion erreicht. Das ist doch in Ihrem Sinne! HABECK Auch das ist doch nicht zu Ende gedacht. Wo ist die Verbindlichkeit? Was passiert denn, wenn Ziele nicht eingehalten werden? Dann überlegt das Kabinett, was es denn mal so machen könnte. Na besten Dank. Knackpunkt ist die Finanzierung des Klimaschutzes. Wie mutig finden Sie die Lösungen der Regierung? HABECK Auf einer Skala von null bis zehn? Null mutig. Mir ist völlig schleierhaft, wie Finanzminister Olaf Scholz die notwendigen Aufgaben im Klimaschutz aus dem laufenden Haushalt finanzieren will. Die einzige zusätzliche Finanzierungsquelle, die die Koalition anführt, ist der Zertifikatehandel. Und mit Verlaub, dieses Geld gehört den Menschen. Ich glaube außerdem, die gesamte Koalition hat nicht verstanden, welch enormen Investitionsbedarf es in diesem Land gibt, schon ohne Klimaschutz – und mit Klimaschutz erst recht. Und sie verkennt genauso die Chancen, die sich aus einer Investitionsoffensive ergeben, gerade in Zeiten wie diesen. Wie stellen Sie sich das genau vor? HABECK Wir können zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen. Wir müssen für Klimaschutz die Wirtschaft modernisieren, die öffentliche Infrastruktur stärken – Schienenverkehr, Öffentlichen Nahverkehr, Ladesäuleninfrastruktur. Das kostet viel Geld. Gleichzeitig laufen wir in eine konjunkturelle Krise rein, die Europa in einem erbärmlich schlechten Zustand trifft. Die Möglichkeiten der Geldpolitik, mit niedrigen Zinsen gegenzusteuern, sind aufgezehrt. Wir müssen investieren. Nicht Kurzarbeit ist das Mittel der Wahl gegen eine Konjunkturkrise, sondern mehr Investitionen? HABECK Ein Mittel, ja. Deutschland als das Land mit dem ausgeglichenen Haushalt hat da in Europa eine große Verantwortung. Es ist geopolitisch fahrlässig, wenn die CDU so tut, als sei das Festhalten an der schwarzen Null eine europäische Pflicht. Diese falsche Politik gefährdet die Stabilität in Europa. Obendrein ist es Unsinn. Pflicht für die Euro-staaten sind die europäischen Stabilitätskriterien, die sehen eine schwarze Null ja überhaupt nicht vor. Sie lassen sogar einen größeren Spielraum für die staatliche Kreditaufnahme als die deutsche Schuldenbremse. Wie wollen Sie dann mit der Schuldenbremse in der Verfassung umgehen? HABECK Aus ökonomischer Vernunft sollten wir die Schuldenbremse an die europäischen Vorgaben anpassen. Damit sinkt die Verschuldung weiter, aber wir schaffen einen Spielraum von bis zu 35 Milliarden Euro. Diese Mittel sollen in einen überjährigen Investitionsfonds fließen, aus dem zum Beispiel die Klimaschutz-maßnahmen wie etwa die Rettung der Wälder bezahlt werden, die keine eigenen Einnahmen bringen. Um diesen Fonds abzusichern, bräuchte es eine Änderung des Grundgesetzes. Eine ehrliche Reform der Schuldenbremse verbunden mit einer Investitionspflicht ist mir allemal lieber als das Festklammern am falschen Versprechen der schwarzen Null.