Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss
Die Geschichte der Bienen
Der Bart ist zu lang, als dass ich gleich mit dem Messer anfangen könnte.“Sie verstand und nickte. Im nächsten Moment war sie mit einer Nähschere wieder da, die unpraktisch klein war, für flinke Frauenfinger gemacht, aber mir gelang es trotzdem, das schlimmste Gestrüpp damit zu beseitigen.
Sachte tauchte ich den Pinsel ins Wasser und rieb ihn dann gegen die Seife. Sie schäumte frisch und duftete nach Wacholder.
„Wo ist das Messer?“Ich sah mich um.
Sie stand nur da, die Hände vor der Schürze verschränkt, den Blick starr zu Boden gerichtet. „Thilda?“Endlich reichte sie mir das Rasiermesser, das sie in der Tasche gehabt hatte. Es zitterte in ihren Händen, als wollte sie es mir nicht ganz überlassen. Ich griff danach und begann die Rasur. Die Klinge kratzte auf der Haut, sie war stumpf.
Thilda blieb stehen und sah mich an.
„Danke. Du kannst jetzt gehen“, sagte ich zu ihr.
Doch sie blieb. Sie heftete ihren Blick auf mich und das Messer. Und plötzlich verstand ich, was sie fürchtete. Ich ließ die Hand sinken.
„Hältst du es denn nicht für ein Zeichen der Genesung, dass ich mich rasiere?“
Sie musste darüber nachdenken, wie immer.
„Ich bin überaus dankbar, dass du die Kraft dafür aufbringst“, antwortete sie schließlich, blieb aber dennoch stehen.
Plante man Derartiges tatsächlich, galt es, eine Methode zu finden, es wie einen ganz normalen Todesfall aussehen zu lassen. Auf diese Weise wollte ich Edmund schonen. Ich hatte mehrere Vorgehensweisen im Kopf – ich hatte schließlich genug Zeit gehabt, sie zu ersinnen –, aber das konnte Thilda natürlich nicht wissen. Sie vermutete, wenn sie mich mit einem scharfen Gegenstand im Zimmer allein ließe, würde ich sofort die Gelegenheit beim Schopfe packen, als gäbe es keine andere. Ein solch schlichtes Gemüt war sie.
Hätte ich einen Strich unter alles ziehen wollen, hätte ich mich längst in den Schnee hinausbegeben, lediglich mit meinem Nachthemd bekleidet. Dann wäre ich am nächsten Tag erfroren aufgefunden worden, mit Eiskristallen an Bart und Wimpern, und es hätte genau so ausgesehen – wie ein ganz normaler Todesfall. Der Saatguthändler hatte sich in der Dunkelheit verirrt und war erfroren, der Ärmste.
Oder Pilze. Im Wald wimmelte es nur so von ihnen, und einige davon hatten letzten Herbst ihren Weg in die oberste Schublade der Kommode ganz links im Laden gefunden, sorgfältig verschlossen, mit einem Schlüssel, auf den nur ich Zugriff hatte. Die Pilze wirkten schnell, im Laufe weniger Stunden wurde man schlaff und träge und schließlich bewusstlos, dann folgten einige wenige Tage, in denen der Körper zersetzt wurde, ehe seine Funktionen ganz aufhörten. Ein Arzt würde als Todesursache lediglich Organversagen feststellen. Niemand würde erfahren, dass man sein Ableben selbst herbeigeführt hatte.
Oder Ertrinken. Der Fluss hinter unserem Haus war selbst im Winter ein reißendes Gewässer.
Oder ich ging zum Hundehof der Blakes, wo immer mindestens sieben wilde Köter am Zaun geiferten.
Oder zu dem steilen Hang im Wald.
Die Möglichkeiten waren mannigfaltig, aber jetzt saß ich hier und rasierte mir den Bart ab und hatte keinerlei Absicht, mich einer von ihnen zu bedienen, auch nicht des Messers in meiner Hand. Denn ich war aufgestanden, und ich würde keine dieser Möglichkeiten je wieder in Betracht ziehen.
(Fortsetzung folgt)
ERPELINO