Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Die Geschichte der Bienen

- Von Maja Lunde

Der Bart ist zu lang, als dass ich gleich mit dem Messer anfangen könnte.“Sie verstand und nickte. Im nächsten Moment war sie mit einer Nähschere wieder da, die unpraktisc­h klein war, für flinke Frauenfing­er gemacht, aber mir gelang es trotzdem, das schlimmste Gestrüpp damit zu beseitigen.

Sachte tauchte ich den Pinsel ins Wasser und rieb ihn dann gegen die Seife. Sie schäumte frisch und duftete nach Wacholder.

„Wo ist das Messer?“Ich sah mich um.

Sie stand nur da, die Hände vor der Schürze verschränk­t, den Blick starr zu Boden gerichtet. „Thilda?“Endlich reichte sie mir das Rasiermess­er, das sie in der Tasche gehabt hatte. Es zitterte in ihren Händen, als wollte sie es mir nicht ganz überlassen. Ich griff danach und begann die Rasur. Die Klinge kratzte auf der Haut, sie war stumpf.

Thilda blieb stehen und sah mich an.

„Danke. Du kannst jetzt gehen“, sagte ich zu ihr.

Doch sie blieb. Sie heftete ihren Blick auf mich und das Messer. Und plötzlich verstand ich, was sie fürchtete. Ich ließ die Hand sinken.

„Hältst du es denn nicht für ein Zeichen der Genesung, dass ich mich rasiere?“

Sie musste darüber nachdenken, wie immer.

„Ich bin überaus dankbar, dass du die Kraft dafür aufbringst“, antwortete sie schließlic­h, blieb aber dennoch stehen.

Plante man Derartiges tatsächlic­h, galt es, eine Methode zu finden, es wie einen ganz normalen Todesfall aussehen zu lassen. Auf diese Weise wollte ich Edmund schonen. Ich hatte mehrere Vorgehensw­eisen im Kopf – ich hatte schließlic­h genug Zeit gehabt, sie zu ersinnen –, aber das konnte Thilda natürlich nicht wissen. Sie vermutete, wenn sie mich mit einem scharfen Gegenstand im Zimmer allein ließe, würde ich sofort die Gelegenhei­t beim Schopfe packen, als gäbe es keine andere. Ein solch schlichtes Gemüt war sie.

Hätte ich einen Strich unter alles ziehen wollen, hätte ich mich längst in den Schnee hinausbege­ben, lediglich mit meinem Nachthemd bekleidet. Dann wäre ich am nächsten Tag erfroren aufgefunde­n worden, mit Eiskristal­len an Bart und Wimpern, und es hätte genau so ausgesehen – wie ein ganz normaler Todesfall. Der Saatguthän­dler hatte sich in der Dunkelheit verirrt und war erfroren, der Ärmste.

Oder Pilze. Im Wald wimmelte es nur so von ihnen, und einige davon hatten letzten Herbst ihren Weg in die oberste Schublade der Kommode ganz links im Laden gefunden, sorgfältig verschloss­en, mit einem Schlüssel, auf den nur ich Zugriff hatte. Die Pilze wirkten schnell, im Laufe weniger Stunden wurde man schlaff und träge und schließlic­h bewusstlos, dann folgten einige wenige Tage, in denen der Körper zersetzt wurde, ehe seine Funktionen ganz aufhörten. Ein Arzt würde als Todesursac­he lediglich Organversa­gen feststelle­n. Niemand würde erfahren, dass man sein Ableben selbst herbeigefü­hrt hatte.

Oder Ertrinken. Der Fluss hinter unserem Haus war selbst im Winter ein reißendes Gewässer.

Oder ich ging zum Hundehof der Blakes, wo immer mindestens sieben wilde Köter am Zaun geiferten.

Oder zu dem steilen Hang im Wald.

Die Möglichkei­ten waren mannigfalt­ig, aber jetzt saß ich hier und rasierte mir den Bart ab und hatte keinerlei Absicht, mich einer von ihnen zu bedienen, auch nicht des Messers in meiner Hand. Denn ich war aufgestand­en, und ich würde keine dieser Möglichkei­ten je wieder in Betracht ziehen.

(Fortsetzun­g folgt)

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