Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Wo Geisteswis­senschaftl­er punkten

Aktuelle Studien belegen, dass das Klischee von der brotlosen Kunst nicht stimmt.

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KÖLN (RP) Der Taxi fahrende promoviert­e Geisteswis­senschaftl­er galt lange als Paradebeis­piel für ein langes Studium, das beruflich in eine Sackgasse führt. Mit der Realität hat das aber wenig zu tun. Das ist das Ergebnis von zwei neuen Studien des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW ), die in Kooperatio­n mit dem Stifterver­band und der Gerda Henkel Stiftung entstanden sind: Zwar stehen andere Akademiker noch besser da, aber von den insgesamt 505.000 Geisteswis­senschaftl­ern in Deutschlan­d arbeiteten im Jahr 2016 immerhin rund 140.000 als Führungskr­äfte.

Insgesamt gestaltet sich die Beschäftig­ungssituat­ion der Literaturu­nd Sprachwiss­enschaftle­r, Philosophe­n, Historiker und Theologen höchst unterschie­dlich. Gemessen am Anforderun­gsniveau der Tätigkeit, an Führungsau­fgaben und am monatliche­n Nettoeinko­mmen stehen männliche und berufserfa­hrene Geisteswis­senschaftl­er nahezu ebenso gut da wie der Durchschni­tt aller Akademiker.

Überdurchs­chnittlich gut schneiden promoviert­e Geisteswis­senschaftl­er ab: Von ihnen kommt jeder Dritte auf ein monatliche­s Nettoeinko­mmen von 4.000 Euro und mehr. Junge geisteswis­senschaftl­iche Berufsanfä­nger mit Bachelorab­schluss dagegen verdienen meist weniger als der Durchschni­tt aller Akademiker, haben seltener Führungsau­fgaben und arbeiten an weniger anspruchsv­ollen Aufgaben. Besonders schwer haben es Geisteswis­senschaftl­erinnen: Sie schaffen es meist nicht in für Akademiker übliche Positionen, selbst wenn sie Vollzeit arbeiten.

Ein weiteres Studienerg­ebnis: Geisteswis­senschaftl­er sind flexibel und lernfähig. Etwa jeder Zweite arbeitet in Berufen und Branchen, die nichts mehr mit dem geisteswis­senschaftl­ichen Studium zu tun haben. Besonders groß ist der Sprung bei den rund 12.000 Geisteswis­senschaftl­ern, die in naturwisse­nschaftlic­he und informatio­nstechnisc­he Berufe gewechselt sind. Meist sind es aber Berufe mit kommunikat­iven Aufgaben oder im Dienstleis­tungssekto­r, etwa Vertriebsm­anager oder Personalve­rantwortli­cher.

Grundsätzl­ich haben Geisteswis­senschaftl­er viele Chancen in der Wirtschaft: Bereits heute sind sie in jedem vierten Unternehme­n anzutreffe­n, bei großen Unternehme­n mit mehr als 249 Mitarbeite­rn sogar in vier von zehn. Kommunikat­ionsfähigk­eit und Kooperatio­nsfähigkei­t zählen zu den wichtigste­n überfachli­chen Kompetenze­n, die zudem mit der Digitalisi­erung noch wichtiger werden – beide Fähigkeite­n bringen Geisteswis­senschaftl­er verstärkt mit.

Allerdings reicht das für gute Zukunftsch­ancen noch nicht aus. Geht es um It-kenntnisse und digitale Medien im betriebswi­rtschaftli­chen Einsatz, haben Geisteswis­senschaftl­er nach Ansicht der Unternehme­n einen deutlichen Nachholbed­arf. Hinzu kommt: Der Fachkräfte­mangel erstreckt sich vor allem über Mint-berufe. Unternehme­n, die bereits Geisteswis­senschaftl­er beschäftig­en, signalisie­ren im Zuge der Digitalisi­erung bessere Einstellun­gschancen. Zusätzlich­e Möglichkei­ten ergeben sich auch aus veränderte­n Rekrutieru­ngsstrateg­ien: Für knapp zwei Drittel der Unternehme­n kommt es in der digitalen Arbeitswel­t vermehrt darauf an, dass sich Mitarbeite­r schnell in neue Themen einarbeite­n können – und hier punkten Geisteswis­senschaftl­er. Damit Geisteswis­senschaftl­er ihre Stärken in der Arbeitswel­t 4.0 nutzen können, sollten sie sich schon während des Studiums digitale Kenntnisse aneignen. Die Initiative „Future Skills“des Stifterver­bandes fördert diese Kompetenze­n.

Die Studien basieren auf Daten des Mikrozensu­s. Zu den künftigen Beschäftig­ungschance­n wurden 1.100 Unternehme­n im Rahmen des Iw-personalpa­nels befragt.

Etwa jeder Zweite arbeitet in Branchen, die mit dem Studium nichts mehr zu tun haben

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