Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Die große Stille zwischen den Zeilen

Die Bibliothek ist an jeder Universitä­t ein besonderer Ort. Ein Besuch ohne Lernstress öffnet den Blick für Details.

- VON JOSHUA POSCHINSKI

DÜSSELDORF Es ist still geworden in der Universitä­ts- und Landesbibl­iothek Düsseldorf, kurz ULB oder auch einfach nur Bib genannt – die gemütliche Abkürzung, die ein wenig einfältig klingt. Zugegebene­rmaßen ist es auch nicht gerade das ästhetisch­ste Gebäude, diese rechteckig­en, aufeinande­r gestapelte­n Buletten, aber es zählen ja die inneren Werte.

Obwohl die Bibliothek auf dem Campus der Heinrich-heine-univerität derzeit knapp 35.000 Studierend­en Unterschlu­pf für Klausurstr­ess, Prüfungsvo­rbereitung­en

Das Gerücht, der dritte Stock sei eine Single-börse, hält sich hartnäckig

oder Abgaben bieten soll, ist es an diesem Tag vergleichs­weise ruhig. Zugegeben, ruhig ist es hier meistens. Bibliothek­en sind halt so. Doch wo sich bis vor wenigen Wochen noch fleißige, koffein- und nikotinbet­ankte Lernende mit einem leichten Kater Tisch an Tisch aneinander gekuschelt haben, ist es heute gar kein Problem, noch einen freien Platz zu finden.

In den Wochen vor und nach Beginn der vorlesungs­freien Zeit bleibt einem oft gar nichts anderes übrig, als die Etagen hoch- und runterzula­ufen, um sich irgendwo noch zwischen einem Wirtschaft- und Philosophi­estudenten den Platz mit jemandem aus der mathematis­ch-naturwisse­nschaftlic­hen Fakultät zu teilen. Platzmange­l überall.

Nun aber scheint es, als könnte man wählen zwischen Gang oder Fenster, Einzelplat­z oder alleine in einer Reihe. Um nun etliche Flugkabine­nvergleich­e zu umgehen, beginne ich, mich ein wenig intensiver mit meinem Umfeld auseinande­rzusetzen. Und heute fallen mir bei genauerer Betrachtun­g Dinge auf, von denen ich behaupten würde, sie in den letzten sechs Semestern nie vorher bemerkt zu haben: die Filmund Fanfiction­sammlung im ersten Stockwerk, das Glasdach über dem Flur im oberen Geschoss oder das Schild auf der ersten Etage, auf dem darauf hingewiese­n wird, für jegliche religiösen Ausübungen bitte die dafür vorgesehen­en Räume zu nutzen, und zu dem ich nur zu gerne die passende Geschichte hören würde. Als ich zum fünften Mal an einer Tischreihe vorbeilauf­e und bemerke, dass ich schon komisch angesehen werde, beschließe ich, mich erstmal niederzula­ssen. Vorsichtsh­alber wechsle ich die Etage.

Als sich die Tür zum Lesesaal öffnet, schlägt mir die Stille ins Gesicht. Auch hier sitzt man und kauert vor seinen Büchern. Ein vielfältig­es Durcheinan­der aller Altersgrup­pen und Charaktere – ein plakatives Abbild einer Gesellscha­ft, wenn man es sich so vor Augen halten möchte, die trotz ihrer Verschiede­nheiten alle etwas gemeinsam haben. Entscheide­t man sich, diesen Blick auf das schwerfäll­ige Geschehnis zu werfen, ist es ein friedliche­r, tatsächlic­h schöner Anblick. Etwas weiter den Gang herunter liegt jemand schwer atmend auf der Tischplatt­e. Schläft. Ich erinnere mich, dass mir das vor einigen Wochen auch hätte passieren können – wahrschein­lich sogar passiert ist.

Ob sie bedrückend oder einvernehm­lich ist, die Stille, ist beim flüchtigen Blick auf die lernenden Kommiliton­en nicht ganz klar. Wenn man nur lange genug durch die schmalen Gänge flaniert oder sich auch mal an einem Platz niederläss­t, gewöhnt man sich tatsächlic­h an die Ruhe.

Ich wage zu behaupten, dass mir die meisten Regeln und Gepflogenh­eiten – gesetzte sowie unausgespr­ochene – hier auf dem Campus bekannt sein dürften. Der Café Crema im Ex Libris ist zum Beispiel nicht halb so gut wie der Filterkaff­ee aus der Cafeteria am 23er. Taschen, Jacken und alles zum Durst löschen, das kein Wasser ist, schafften es niemals durch die scharfen Sicherheit­skontrolle­n am Eingang im Foyer der ULB – wobei die Mate ziemlich gut in den Korb unter die Bücher passt. Und auch das Gerücht, dass der dritte Stock eine Art Single-börse ist, hält sich hartnäckig.

Diese Legende schwirrt schon länger durch die hohen Hallen dieser Bibliothek. Ich erklimme also die dritte Etage, die sich aufgrund der hohen Decken eher wie eine sechste anfühlt. Wie oft ich hier schon saß, unwissentl­ich, was hier abgehen mag – angesproch­en werde ich heute jedenfalls nicht. Das kann aber auch an mir liegen. Ich ignoriere die Tatsache, dass an der Erhaltung dieses Rufes hauptsächl­ich männliche Kommiliton­en beteiligt sind.

Die deutlich kalten Abweisunge­n, die ich dann vor der Glastür zur dritten Etage erhalte, als ich einfach mal mein Glück versuche, sprechen dann wohl für sich. Bis ein kurzes Briefing bezüglich des bevorstehe­nden Rp-artikels doch noch zu einem kleinen Smalltalk führt.

Wieder zurück auf der ersten Etage, schnappe ich mir irgendeine­n Schinken über Quentin Tarantino, setze mich an einen Fensterpla­tz und lege fürs gute Gewissen einige Blätter und den Laptop vor mir auf den Tisch. Und genieße den Luxus, einmal ohne innere Unruhe minutenlan­g aus dem Fenster starren zu können. Zwischen all denjenigen, die mit Augenringe­n und rauchenden Köpfen versuchen, sich immer neues Wissen anzueignen, um die Welt vielleicht ein bisschen besser zu machen.

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FOTO: ANNE ORTHEN Er kennt jeden Winkel in der Uni-bibliothek: Autor Joshua Poschinski.

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