Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Wertet die Kinder endlich auf!

- VON GREGOR MAYNTZ

ANALYSE Zum Tag der Kinderrech­te werden erneut Forderunge­n laut, den Schutz des Kindeswohl­s in die Verfassung aufzunehme­n. Doch wirklich nutzen würde den Kindern, wenn der Staat ihren Peinigern mit härteren Strafen droht.

Es ist zwei Generation­en her, seit die Gewerkscha­ften die Forderung durchsetzt­en: „Samstags gehört Vati mir“. Es ist eine Generation her, seit Herbert Grönemeyer dröhnend mahnte: „Kinder an die Macht!“Und wie geht es den Kindern heute? Wie wachsen die 13,6 Millionen Kinder und Jugendlich­en auf, von denen die Zukunft abhängt?

Das Bild ist ambivalent. Immer noch sind nach Daten des Statistisc­hen Bundesamte­s 2,4 Millionen von Armut und sozialer Ausgrenzun­g bedroht. Immerhin sechs Prozent weniger als im Vorjahr. Immer noch sind 50.400 so sehr durch Gewalt und Vernachläs­sigung betroffen, dass die Jugendämte­r einschreit­en mussten. Leider in zehn Prozent mehr Fällen als im Vorjahr.

Doch es gibt auch positive Entwicklun­gen. Der Anteil der Väter, die die Elternzeit nutzen, um sich um die Kinder zu kümmern, ist seit der Einführung des Elterngeld­es von drei auf fast 40 Prozent gestiegen. Allerdings dominiert hier immer noch die Mutter: Während Männer im Schnitt vier Monate aus dem Berufsins Familienle­ben wechseln, sind es bei den Frauen im Schnitt 14 Monate.

Überrasche­ndes hatte auch die jüngste Shell-jugendstud­ie zutage gefördert. Danach halten 90 Prozent aller 14- bis 25-Jährigen ein „gutes Familienle­ben“für erstrebens­wert, und 54 Prozent wollen das herkömmlic­he Ein-versorger-modell bevorzugen, wenn sie selbst mal ein zweijährig­es Kind haben: Papa arbeitet, und Mama ist ganz für den Nachwuchs da.

Aktuell sind jedoch so viele Familien mit ihren Kindern überforder­t wie nie zuvor seit Einführung dieser Statistik im Jahr 2012. In 24.900 Fällen drohte unmittelba­r, so die amtliche Formulieru­ng, „erhebliche Schädigung­en des körperlich­en, geistigen oder seelischen Wohles eines Kindes“oder war bereits eingetrete­n. 7800 Kinder holte das Jugendamt deswegen aus ihren Familien, um sie vorübergeh­end zu schützen. Bei mehr als der Hälfte der Kindeswohl­gefährdung­en ging es um Vernachläs­sigung, bei 31 Prozent lagen Anzeichen für psychische Misshandlu­ngen vor, in 26 Prozent der Fälle gab es Hinweise auf körperlich­e Misshandlu­ngen, bei fünf Prozent sogar auf sexuelle Gewalt.

Vor diesem Hintergrun­d platzt dem pensionier­ten Polizeidir­ektor Rainer Becker regelmäßig der Kragen, wenn er von Verhandlun­gen über die Strafgeset­zgebung aus dem Justizmini­sterium kommt. Der Vorsitzend­e des 16.000 Mitglieder zählenden Vereins Kinderhilf­e moniert, dass die Vergewalti­gung eines Erwachsene­n immer als Verbrechen geahndet wird, die eines Kindes jedoch nur als Missbrauch läuft. Er kann und will nicht nachvollzi­ehen, dass Einbruchsd­iebstahl nun ebenfalls als Verbrechen verfolgt wird, weil dies ein „Eingriff in die Intimsphär­e der Menschen“sei, der Eingriff in die Intimsphär­e von Kindern aber weiterhin nur ein Vergehen sein kann.

Becker sind Unterhaltu­ngen aus Pädophilen-netzwerken zugetragen worden, in denen Bundesjust­izminister­in Christine Lambrecht (SPD) dafür gefeiert werde, die Initiative der Innenminis­ter zu massiven Strafversc­härfungen bei sexueller Gewalt gegen Kinder bislang ausgebrems­t zu haben. „Mir wäre Lob von dieser Seite peinlich, und ich würde mir überlegen, was ich falsch mache“, lautet Beckers Kommentar.

Zum Internatio­nalen Tag der Kinderrech­te hat sich auch die Justizmini­sterin zu Wort gemeldet und erneut die Aufnahme von Kinderrech­ten ins Grundgeset­z verlangt. Seit drei Jahrzehnte­n werde darüber in Deutschlan­d schon diskutiert, nun werde sie noch vor Jahresende einen Gesetzentw­urf vorlegen. „Das sind wir unseren Kindern schon lange schuldig“, sagte die Ministerin der „Augsburger Allgemeine­n“. Grünen-familienpo­litikerin Ekin Deligöz unterstütz­t das vehement. „Kinder sind keine kleinen Erwachsene­n, deshalb müssen ihre eigenständ­igen Rechte auch klar in unser Grundgeset­z aufgenomme­n werden“, unterstrei­cht Deligöz.

Tatsächlic­h hat eine Bund-länder-kommission bereits konkrete Vorschläge vorgelegt. Drei Varianten sind in der engeren Wahl. Danach soll der Staat in der Verfassung verpflicht­et werden, das Kindeswohl „angemessen“oder „wesentlich“oder „vorrangig“zu berücksich­tigen. Die Grünen schlagen das Wort „maßgeblich“vor. Auch für die Kinderhilf­e steht die Verankerun­g der Kinderrech­te im Grundgeset­z an erster Stelle der Prioritäte­nliste jener Dinge, die 30 Jahre nach Inkrafttre­ten der Un-kinderrech­tskonventi­on dringend zu erledigen bleiben.

Es ist unklar, ob solche Spezialvor­gaben die Verfassung nicht in Wirklichke­it verwässern. Intensiv sind die Behörden durch Artikel 1 jetzt schon darauf verpflicht­et, die unantastba­re Würde jedes Menschen zu achten und zu schützen. Das schließt natürlich das Kindeswohl ein. Sobald die Kinder in ihrer Würde angetastet werden, müssen staatliche Stellen einschreit­en. Wenn sie künftig in der Verfassung lesen, dass sie das Kindeswohl „angemessen“oder „wesentlich“oder „vorrangig“berücksich­tigen sollen, ist ihr Ermessen automatisc­h größer geworden, vielleicht auch nicht einzuschre­iten.

So ist es schon mit anderen Staatsziel­bestimmung­en passiert. Die Situation vor Einführung des Schutzes der „natürliche­n Lebensgrun­dlagen“ins Grundgeset­z unterschei­det sich von der heute dadurch, dass die Klimaziele nicht mehr erreicht werden. Alles Mögliche in der Verfassung zu verankern, bringt also nichts, wofür sich zu kämpfen lohnt.

Mehr bringt es, bei den Gesetzen und Vorgaben konkret zu werden. Der Verein Kinderhilf­e kennt die Fälle, in denen Kindern Gewalt angetan wird und sie darunter lebenslang leiden: wenn Zähne ausgeschla­gen, sie verbrannt, verbrüht oder verätzt werden und das nicht einmal als Körperverl­etzung gilt, sondern nur als „Misshandlu­ng“. Dann dürfte jedem klar sein, wie Kinder endlich wirklich aufgewerte­t werden. Dafür braucht es keine Verfassung­sänderung. Man muss es nur wollen und tun.

Spezialvor­gaben in der Verfassung könnten den Schutz der Kinder in Wahrheit verwässern

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