Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss
„Und dann sah ich in den Himmel“
Vor zwei Wochen erlitt Matthias Hauer im Bundestag einen Kreislaufkollaps – schuld waren wohl zu viel Arbeit und eine ungesunde Lebensweise. Nichts Ernstes? Vielleicht. Aber die Belastung zu reduzieren, ist für Politiker nicht so einfach.
BERLIN Er hätte noch 30 Sekunden gebraucht. Dann wäre er fertig gewesen. Seine Rede im Bundestag über den Schutz des Bargelds war lebendig, er war in Fahrt. Wie so oft griff Matthias Hauer die AFD gezielt an. Sie bekommt von dem Cdu-bundestagsabgeordneten aus Essen immer wieder Zunder. Aber dann wird ihm am Rednerpult plötzlich schwindelig. Die Nacht war kurz, Rückenschmerzen plagten ihn. Er merkt, dass etwas nicht stimmt. Bloß schnell zum Platz zurück. Hauer sagt: „Ich komme nun zum Ende.“Aber es kommt nichts. Er hält ein Papier hoch, seine Hände zittern. „Und dann stelle ich fest“, tut er kund – und stellt nichts fest. Pause. Er ahnt, dass das nicht gut ausgeht, reißt aber noch einen Witz: „Ich erhöhe hier die Spannung.“Abgeordnete müssen lachen. Dann schweigt er und schwankt.
Als Erste erkennt seine Fraktionskollegin Antje Tillmann den Ernst der Lage. Sie rennt los und stellt sich helfend neben den großen Mann. Auch aus anderen Fraktionen eilen Abgeordnete herbei und verhindern, dass Hauer auf den Boden schlägt. Nezahat Baradari, Spd-abgeordnete und Ärztin, kümmert sich um ihn, die Sitzung wird unterbrochen. Hauer liegt nun hinter dem Pult. Später wird er erzählen: „Und dann sah ich in den Himmel.“Denn aus dieser Perspektive kann man direkt durch die gläserne Kuppel des Reichstagsgebäudes schauen.
Es ist der 7. November 2019. Ein komischer Tag im Bundestag. Am Abend wird während einer namentlichen Abstimmung wieder nach einem Arzt gerufen. Simone Barrientos, Abgeordnete der Linksfraktion, braucht Hilfe. Wieder eilen Ärzte unter den Abgeordneten herbei. Politiker gelten als privilegiert und gut bezahlt. Dass sie oft bis zur Erschöpfung arbeiten, wird selten gesehen. Meistens erst, wenn einer umfällt.
Anke Domscheit-berg (Linke) twittert, Donnerstage hätten Tagesordnungen, die von 9 Uhr morgens ohne Pause bis theoretisch 5 Uhr früh am nächsten Tag gingen. So wie eine Woche später die Sitzung des Haushaltsausschusses. Die geplante Pressekonferenz wird abgesagt. Irgendwann ist auch mal Schluss.
Hauers Mutter sieht live im Fernsehen, wie ihr Sohn zusammenklappt. Für sie ist die Ungewissheit kaum auszuhalten. In der Berliner Charité wird der 41-Jährige durchgecheckt. Schlaganfall und eine schwere Krankheit werden ausgeschlossen. Wohl ein Kreislaufkollaps. Womöglich eine Mischung aus Schmerzen, Schlafmangel, zu niedrigem Blutdruck, zu wenig Sport, ungesunder Ernährung, zu vielen Terminen.
Auf Hauer trifft die Beschreibung zu, jemand mache etwas mit Leib und Seele. Noch im Krankenhaus sagt er, er müsse zurück in den Bundestag. Ganz bei sich ist er da noch nicht. Der Rechtsanwalt hat in seinen bisher sechs Jahren Parlamentszugehörigkeit noch nie eine namentliche Abstimmung verpasst, und er war auch noch keinen Tag krank, sagt er. Ein Kreislaufkollaps vor laufenden Kameras ist aber eine gute Entschuldigung für das Fernbleiben.
Keine 48 Stunden später ist er auf dem Weg nach Hause. In Essen warten Freunde und seine Mutter auf ihn. Klar, er verspricht, ein bisschen mehr auf sich aufzupassen. „Kinder sollten häufiger auf ihre Mutter hören“, findet er, gibt aber zu: „Nur machen Kinder das eben oft nicht.“
Hauer ist alleinstehend und kann sich von morgens bis nachts mit Arbeit zuknallen. Montags fährt er um 8.23 Uhr von Essen nach Berlin. Dort Ausschusssitzungen, Arbeitsgruppentreffen, Landesgruppensitzungen, Fraktionssitzungen, Bundestagssitzungen, Besuchergruppenführungen, Pressegespräche. Am Freitagnachmittag geht es zurück, am Wochenende macht er Wahlkreisarbeit, in den sitzungsfreien Wochen Parteiarbeit in Essen.
In der vorigen Wahlperiode hatte die Unionsfraktion 17 Abgeordnete aus dem Ruhrgebiet. Jetzt sind es noch vier – für fünf Millionen Menschen.
Wenn er einen halben Tag in der Woche frei hat, ist er zufrieden. Einmal im Jahr fährt er mit Freunden für eine Woche nach Mallorca. 2019 ist er auch mit dem Fahrrad in den Niederlanden unterwegs gewesen. Zwei Tage. „Das war schön.“
Am 11. November sitzt Hauer wieder um 8.23 Uhr im Zug nach Berlin. Viele Arbeitnehmer wären wohl ihrem Arzt gefolgt und hätten sich eine Woche krankschreiben lassen.
Hauer sitzt in der Cafeteria im Bundestag und erzählt, wie es ihm ergangen ist. Anzug, Krawatte, auf dem Tisch sein Tablet und das Handy. Man merkt ihm nicht an, dass er vor einer Woche einen körperlichen Zusammenbruch hatte. Der Mann ist mit 15 Jahren in die Junge Union eingetreten. Politik ist sein Traum. Er will seinen Wählern etwas zurückgeben, sagt er. Er hat viele aufmunternde Zuschriften bekommen. Es gab nur ganz wenig feindselige Post, etwa solche, dass die „Cdu-ratte gleich liegen bleiben soll“.
Ist die Politik härter geworden? Hauer sagt, in der vorigen Wahlperiode sei es ruhiger gewesen, weil es AFD und FDP im Bundestag nicht gab. „Die große Koalition hat 80 Prozent der Sitze gehabt, was Reibung verhindert hat. Die Debatten im Bundestag haben die Debatten in der Gesellschaft nicht widergespiegelt.“Das sei nicht gut gewesen. „Was sich aber mittlerweile in den sozialen Medien und auch im Plenum an Verrohung der Sprache, Hass und Hetze und Halbwahrheiten abspielt, ist schwer zu ertragen. Insofern ist die Politik stressiger geworden.“
Ein paar Mal hat er gegen die Linie der Kanzlerin gestimmt (etwa beim dritten Griechenland-paket). Und er hat für die Ehe für alle votiert, weil er eine moderne CDU haben will. Gerade Christdemokraten seien doch dafür, dass Menschen Verantwortung füreinander übernehmen. Hauer gehört nicht zur vordersten Reihe; er will auch nicht mehr werden, als er ist. „Es ist eine Ehre für mich, meinen Wahlkreis vertreten zu dürfen“, sagt er. Trotzdem hat er einen vollen Terminkalender. Er will davon aber nichts hören. „Viele Menschen müssen hart arbeiten, sie haben noch Kinder oder pflegen die Eltern. Ich mache meine Arbeit gern und mit Herzblut.“
Für Hauer ist dieser 7. November trotzdem ein Einschnitt. „Das war der erste Krankenhausaufenthalt meines Lebens, und den habe ich quasi mit der Nation geteilt“, sagt er. Das Video dazu verbreitete sich rasend schnell im Netz. „Jetzt bin ich wieder fit“, erklärt er. Er will aber regelmäßiger und gesünder essen. Und mehr Sport machen. Schwimmen am besten. Das hat er schon immer gern gemacht. Aber dafür hat er im Moment keine Zeit.