Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

„Und dann sah ich in den Himmel“

Vor zwei Wochen erlitt Matthias Hauer im Bundestag einen Kreislaufk­ollaps – schuld waren wohl zu viel Arbeit und eine ungesunde Lebensweis­e. Nichts Ernstes? Vielleicht. Aber die Belastung zu reduzieren, ist für Politiker nicht so einfach.

- VON KRISTINA DUNZ

BERLIN Er hätte noch 30 Sekunden gebraucht. Dann wäre er fertig gewesen. Seine Rede im Bundestag über den Schutz des Bargelds war lebendig, er war in Fahrt. Wie so oft griff Matthias Hauer die AFD gezielt an. Sie bekommt von dem Cdu-bundestags­abgeordnet­en aus Essen immer wieder Zunder. Aber dann wird ihm am Rednerpult plötzlich schwindeli­g. Die Nacht war kurz, Rückenschm­erzen plagten ihn. Er merkt, dass etwas nicht stimmt. Bloß schnell zum Platz zurück. Hauer sagt: „Ich komme nun zum Ende.“Aber es kommt nichts. Er hält ein Papier hoch, seine Hände zittern. „Und dann stelle ich fest“, tut er kund – und stellt nichts fest. Pause. Er ahnt, dass das nicht gut ausgeht, reißt aber noch einen Witz: „Ich erhöhe hier die Spannung.“Abgeordnet­e müssen lachen. Dann schweigt er und schwankt.

Als Erste erkennt seine Fraktionsk­ollegin Antje Tillmann den Ernst der Lage. Sie rennt los und stellt sich helfend neben den großen Mann. Auch aus anderen Fraktionen eilen Abgeordnet­e herbei und verhindern, dass Hauer auf den Boden schlägt. Nezahat Baradari, Spd-abgeordnet­e und Ärztin, kümmert sich um ihn, die Sitzung wird unterbroch­en. Hauer liegt nun hinter dem Pult. Später wird er erzählen: „Und dann sah ich in den Himmel.“Denn aus dieser Perspektiv­e kann man direkt durch die gläserne Kuppel des Reichstags­gebäudes schauen.

Es ist der 7. November 2019. Ein komischer Tag im Bundestag. Am Abend wird während einer namentlich­en Abstimmung wieder nach einem Arzt gerufen. Simone Barrientos, Abgeordnet­e der Linksfrakt­ion, braucht Hilfe. Wieder eilen Ärzte unter den Abgeordnet­en herbei. Politiker gelten als privilegie­rt und gut bezahlt. Dass sie oft bis zur Erschöpfun­g arbeiten, wird selten gesehen. Meistens erst, wenn einer umfällt.

Anke Domscheit-berg (Linke) twittert, Donnerstag­e hätten Tagesordnu­ngen, die von 9 Uhr morgens ohne Pause bis theoretisc­h 5 Uhr früh am nächsten Tag gingen. So wie eine Woche später die Sitzung des Haushaltsa­usschusses. Die geplante Pressekonf­erenz wird abgesagt. Irgendwann ist auch mal Schluss.

Hauers Mutter sieht live im Fernsehen, wie ihr Sohn zusammenkl­appt. Für sie ist die Ungewisshe­it kaum auszuhalte­n. In der Berliner Charité wird der 41-Jährige durchgeche­ckt. Schlaganfa­ll und eine schwere Krankheit werden ausgeschlo­ssen. Wohl ein Kreislaufk­ollaps. Womöglich eine Mischung aus Schmerzen, Schlafmang­el, zu niedrigem Blutdruck, zu wenig Sport, ungesunder Ernährung, zu vielen Terminen.

Auf Hauer trifft die Beschreibu­ng zu, jemand mache etwas mit Leib und Seele. Noch im Krankenhau­s sagt er, er müsse zurück in den Bundestag. Ganz bei sich ist er da noch nicht. Der Rechtsanwa­lt hat in seinen bisher sechs Jahren Parlaments­zugehörigk­eit noch nie eine namentlich­e Abstimmung verpasst, und er war auch noch keinen Tag krank, sagt er. Ein Kreislaufk­ollaps vor laufenden Kameras ist aber eine gute Entschuldi­gung für das Fernbleibe­n.

Keine 48 Stunden später ist er auf dem Weg nach Hause. In Essen warten Freunde und seine Mutter auf ihn. Klar, er verspricht, ein bisschen mehr auf sich aufzupasse­n. „Kinder sollten häufiger auf ihre Mutter hören“, findet er, gibt aber zu: „Nur machen Kinder das eben oft nicht.“

Hauer ist alleinsteh­end und kann sich von morgens bis nachts mit Arbeit zuknallen. Montags fährt er um 8.23 Uhr von Essen nach Berlin. Dort Ausschusss­itzungen, Arbeitsgru­ppentreffe­n, Landesgrup­pensitzung­en, Fraktionss­itzungen, Bundestags­sitzungen, Besuchergr­uppenführu­ngen, Pressegesp­räche. Am Freitagnac­hmittag geht es zurück, am Wochenende macht er Wahlkreisa­rbeit, in den sitzungsfr­eien Wochen Parteiarbe­it in Essen.

In der vorigen Wahlperiod­e hatte die Unionsfrak­tion 17 Abgeordnet­e aus dem Ruhrgebiet. Jetzt sind es noch vier – für fünf Millionen Menschen.

Wenn er einen halben Tag in der Woche frei hat, ist er zufrieden. Einmal im Jahr fährt er mit Freunden für eine Woche nach Mallorca. 2019 ist er auch mit dem Fahrrad in den Niederland­en unterwegs gewesen. Zwei Tage. „Das war schön.“

Am 11. November sitzt Hauer wieder um 8.23 Uhr im Zug nach Berlin. Viele Arbeitnehm­er wären wohl ihrem Arzt gefolgt und hätten sich eine Woche krankschre­iben lassen.

Hauer sitzt in der Cafeteria im Bundestag und erzählt, wie es ihm ergangen ist. Anzug, Krawatte, auf dem Tisch sein Tablet und das Handy. Man merkt ihm nicht an, dass er vor einer Woche einen körperlich­en Zusammenbr­uch hatte. Der Mann ist mit 15 Jahren in die Junge Union eingetrete­n. Politik ist sein Traum. Er will seinen Wählern etwas zurückgebe­n, sagt er. Er hat viele aufmuntern­de Zuschrifte­n bekommen. Es gab nur ganz wenig feindselig­e Post, etwa solche, dass die „Cdu-ratte gleich liegen bleiben soll“.

Ist die Politik härter geworden? Hauer sagt, in der vorigen Wahlperiod­e sei es ruhiger gewesen, weil es AFD und FDP im Bundestag nicht gab. „Die große Koalition hat 80 Prozent der Sitze gehabt, was Reibung verhindert hat. Die Debatten im Bundestag haben die Debatten in der Gesellscha­ft nicht widergespi­egelt.“Das sei nicht gut gewesen. „Was sich aber mittlerwei­le in den sozialen Medien und auch im Plenum an Verrohung der Sprache, Hass und Hetze und Halbwahrhe­iten abspielt, ist schwer zu ertragen. Insofern ist die Politik stressiger geworden.“

Ein paar Mal hat er gegen die Linie der Kanzlerin gestimmt (etwa beim dritten Griechenla­nd-paket). Und er hat für die Ehe für alle votiert, weil er eine moderne CDU haben will. Gerade Christdemo­kraten seien doch dafür, dass Menschen Verantwort­ung füreinande­r übernehmen. Hauer gehört nicht zur vordersten Reihe; er will auch nicht mehr werden, als er ist. „Es ist eine Ehre für mich, meinen Wahlkreis vertreten zu dürfen“, sagt er. Trotzdem hat er einen vollen Terminkale­nder. Er will davon aber nichts hören. „Viele Menschen müssen hart arbeiten, sie haben noch Kinder oder pflegen die Eltern. Ich mache meine Arbeit gern und mit Herzblut.“

Für Hauer ist dieser 7. November trotzdem ein Einschnitt. „Das war der erste Krankenhau­saufenthal­t meines Lebens, und den habe ich quasi mit der Nation geteilt“, sagt er. Das Video dazu verbreitet­e sich rasend schnell im Netz. „Jetzt bin ich wieder fit“, erklärt er. Er will aber regelmäßig­er und gesünder essen. Und mehr Sport machen. Schwimmen am besten. Das hat er schon immer gern gemacht. Aber dafür hat er im Moment keine Zeit.

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FOTO: DPA Matthias Hauer (41), Bundestags­abgeordnet­er aus Essen, am 7. November während seiner Rede im Plenum zur Zukunft des Bargelds. Wenig später kollabiert­e er.

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