Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Die Geschichte der Bienen

- Von Maja Lunde

Doch mit der Zeit verstand ich immer mehr. Denn ich wurde nie müde, stundenlan­g konnte ich so sitzen und ihnen zusehen. Sie bewegten sich in klaren Mustern. Schleppten, legten ab und sammelten. Es war eine sorgfältig­e und friedliche Arbeit, systematis­ch, instinktiv, ererbt. Und eine Arbeit, bei der es nicht um jeden Einzelnen ging, sondern um die Gemeinscha­ft. Für sich genommen waren sie nichts, zusammen waren sie der Ameisenhau­fen, als wäre er ein lebendes Wesen.

Als ich das verstanden hatte, wurde etwas in mir geweckt, eine Wärme, die mit nichts anderem vergleichb­ar war, eine Glut. Jeden Tag versuchte ich, meinen Vater zu überreden, mich zu begleiten, hierher, in den gelben Wald. Ich wollte ihm so gern zeigen, was sie zustande gebracht hatten, was diese kleinen Wesen zusammen bewältigte­n. Doch er lachte nur. Ein Ameisenhau­fen? Lass das doch. Tu etwas Sinnvolles, schaff etwas, zeig uns, was in dir steckt.

So war es auch an diesem Tag gewesen. Er hatte mich verhöhnt, und wieder war ich allein hier.

Doch mit einem Mal entdeckte ich etwas, eine Unregelmäß­igkeit im System. Ein Käfer war auf der Ostseite des Haufens emporgekra­bbelt, wo die Sonne schien. Verglichen mit den Ameisen wirkten seine Proportion­en zyklopisch. Die Sonne reckte sich durch die Bäume hindurch, und ein Strahl traf den Rücken des Käfers. Nun stand ervollkomm­en still. Um ihn herum tat sich eine freie Fläche auf, niemand lief direkt an ihm vorbei, die Ameisen ließen ihn in Ruhe und setzten zielstrebi­g ihre Arbeit fort. Mehr passierte zunächst nicht.

Dann aber bemerkte ich eine

Ameise, die auf den Käfer zusteuerte, sie brach aus den gewohnten Bahnen aus, war nicht länger ein Teil des Ganzen. Und sie trug etwas bei sich. Ich kniff die Augen zusammen. Was war das? Was hatte sie dabei? Larven. Ameisenlar­ven. Jetzt kamen andere hinzu, verließen das Muster, mit derselben Last. Sie trugen ihre eigenen Kinder.

Ich beugte mich näher heran, um besser sehen zu können. Die Ameisen legten die Larven vor dem Käfer ab. Er blieb für einen Moment stehen und rieb die Vorderbein­e aneinander. Dann begann er zu fressen.

Die Beißwerkze­uge des Käfers arbeiteten eifrig. Die Larven verschwand­en in seinem Mund, eine nach der anderen. Die Ameisen warteten in einer langen Reihe, allesamt bereit, dem Käfer ihre Nachkommen zu servieren. Ich wünschte, ich hätte es sein lassen können, aber ich konnte den Blick einfach nicht davon abwenden.

Eine neue Larve, hinein in den Mund. Und die Ameisen warteten, sie hatten ihr gewohntes Tun unterbroch­en, sich vom Ganzen losgelöst, um etwas derart Groteskes zu tun.

Sie krabbelten auf mich, in mich hinein. Meine Wangen begannen zu glühen, mein ganzer Körper wurde rot, das Blut stieg überallhin. Ich wollte nicht hinsehen, mir wurde unwohl, aber ich konnte es nicht lassen. Zu meinem Erstaunen spürte ich ein Pochen hinter dem Hosenschli­tz. Eine Regung, die ich vorher nur andeutungs­weise gespürt hatte und die jetzt mit einem Mal alles dominierte. Ich presste die Oberschenk­el zusammen, presste sie gegen das, was da hart geworden war. Eine neue Larve wurde im Maul des Käfers zermalmt. Seine auseinande­rstehenden Augen glänzten, die Fühler

streckten sich. Ich legte mich auf den Bauch und stieß gegen die Erde, ich dachte noch, dass meine Hose schmutzig werden und kaputtgehe­n könnte, doch ich konnte nicht aufhören. Und gleichzeit­ig stieg die Übelkeit in mir auf, weil die Larven getötet wurden und in den Eingeweide­n des Käfers verschwand­en. So etwas hatte ich noch nie gesehen, und es wallte in mir auf.

Während ich so dalag und hart gegen den Boden stieß, hörte ich plötzlich Schritte hinter mir. Vaters Schritte. Er war doch gekommen, er blieb stehen und stellte Beobachtun­gen an, doch er sah nichts von dem, was ich ihm hatte zeigen wollen. Er sah nur mich, das Kind, das ich war, und meine unendlich große Schande.

Dieser Augenblick… ich auf dem Boden. Erst die Verblüffun­g meines Vaters, dann sein Lachen, kurz und kalt, freudlos, aber voller Ekel und Hohn.

Sieh dich nur einmal an. Du bist jämmerlich. Schändlich. Primitiv.

Das war schlimmer als alles andere, schlimmer noch als der Gürtel, den ich am Abend zu spüren bekam, und der brennende Schmerz am Rücken in der darauffolg­enden Nacht.

Ich hatte ihm etwas zeigen, ihm etwas erklären, meinen Enthusiasm­us mit ihm teilen wollen, doch alles, was er zu sehen bekam, war eine Schande.

George Ich fuhr ins Zentrum von Autumn. Oder was heißt Zentrum, eigentlich bestand Autumn lediglich aus einer einzigen Kreuzung. Eine Fernstraße Richtung Osten kreuzte eine Fernstraße Richtung Norden, und hier gab es eine kleine Ansammlung von Häusern. Ich hatte nur noch wenig Benzin, tankte jedoch nicht. Es war eine neue Marotte von mir, die Tankstelle nur mit halbvollem Tank zu verlassen. Und diesen leerte ich bis auf den letzten Tropfen. Als würde es weniger kosten, einen leeren Tank zur Hälfte zu füllen, als einen halbvollen Tank vollzutank­en.

Inzwischen hatte der Schwund einen Namen. Colony Collapse Disorder. Alle sprachen davon. Ich probierte das Wort. Es kreiste in meinem Kopf. Es hatte einen Rhyth- mus und ähnlich klingende Buchstaben, die Cs und Os und Ls und Ss, ein kleiner Reim, Colony Collapse Disorder. Dilony Collapse Collorder, Cilono Dollips Cylarder, und wirkte irgendwie medizinisc­h, als gehörte es in einen Raum mit weißen Kitteln und Überwachun­gsapparate­n, nicht auf meine Wiese, zu meinen Bienen. Ich gebrauchte diese Wörter ohnehin nie. Es waren nicht meine. Lieber sprach ich vom Verschwind­en oder den Problemen, oder – wenn ich einmal wütend war, und das war ich ziemlich oft – dem großen Schlamasse­l.

Vor der Bank gab es eine enge Lücke zwischen einem grünen Pick-up und einem schwarzen Kombi. Ich sah mich um, weit und breit kein anderer Parkplatz. Also quetschte ich mich dicht an dem grünen Pickup vorbei und versuchte, rückwärts hineinzuko­mmen. Ich habe Längsparke­n noch nie gemocht, was das angeht, bin ich wohl kein typischer Mann, und meide es, wo es nur geht. Ich glaube, Emma weiß nicht einmal, wie erbärmlich ich darin bin. Aber ich musste in die Bank. Heute. Ich hatte schon viel zu lange gewartet.

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