Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Operation Bruckner

Die Berliner Philharmon­iker haben jetzt die monumental­en Symphonien des Romantiker­s Anton Bruckner als Cd-schuber veröffentl­icht. Am Pult stehen lauter Stars. Doch Berühmthei­t garantiert nicht unbedingt Qualität.

- VON WOLFRAM GOERTZ

BERLIN Weltklasse-orchester pflegen ihren unverwechs­elbaren Klang. Die Wiener Philharmon­iker klingen anders, wärmer als die Berliner, deren Klangbrill­anz dagegen fabelhaft ist. In Chicago liebt man das schneidend­e Blech, wogegen das Concertgeb­ouw Orchestra umwerfende Holzbläser aufbietet. Wenn allerdings ein großer Dirigent vorn steht, dann kommt es, vor allem wenn er länger im Amt ist, durchaus zu Modifikati­onen des Sounds. Die Wiener Philharmon­iker haben solche Veränderun­gen übrigens ausgeschlo­ssen, weil sie kategorisc­h keinen Chefdirige­nten haben.

Nun tritt der einzigarti­ge Zustand ein, dass die Berliner Philharmon­iker in den vergangene­n zehn Jahren alle neun Symphonien Anton Bruckners aufgenomme­n und jedem Werk einen anderen Dirigenten zugewiesen haben. Und weil die Berliner für dieses Mammutunte­rnehmen natürlich nur Top-leute gefragt haben, erlebt man ein „Who is who?“der Maestri. Ausgewiese­ne Bruckner-versteher wie Günter Wand oder Michael Gielen, Sergiu Celibidach­e oder Riccardo Chailly, Eliahu Inbal oder Stanislaw Skrowaczew­ski fehlen indes; sie waren entweder schon tot oder wurden nicht gefragt.

Was muss man für Bruckners Symphonien können? Ein Dirigent muss die Frömmigkei­t der Musik würdigen, etwa ihre Choräle, die sich aus dem Urnebel des Streicher-tremolos erheben. Zugleich muss er diese religiöse Schicht als eine Dimension einer zyklopisch­en, fast zerrissen anmutenden symphonisc­hen Gesamtstru­ktur begreifen. Bruckner ist kein organische­r Arbeiter wie Brahms, bei dem alle Motive und Themen fortwähren­d variatione­nhaft bestäubt werden; bei Bruckner stehen die Formteile oft wie Blöcke, wie urzeitlich­e Findlinge nebeneinan­der. Ein guter Bruckner-dirigent spannt über sie einen architekto­nischen Bogen, sozusagen einen Himmel über Stonehenge.

Wer sich mit der ersten Symphonie systematis­ch in die Materie einhören will, bekommt in dieser Edition nicht den besten Schlüssel überreicht, denn am Pult steht Seiji Ozawa, der mit Bruckner nicht allzu viel anfangen kann. Er versteht ihn sehr amerikanis­ch, langsame

Tempi sind sehr langsam, schnelle sind sehr schnell. Das Blech wirkt wie verchromt, die Steigerung­en fallen zu filmisch aus. Und das Orchester wirkt recht uninspirie­rt, als ahne es, dass dieser Straßenkre­uzer-hafte Bruckner nicht der wahre Jakob ist.

Das ist nicht die einzige Fehlstelle in dieser Edition. Auch die wahrlich ungebärdig­e, überdimens­ional disponiert­e Fünfte ist unter Bernard Haitink ein wattiertes Stück Musik, dem es an Kontur, an Ecken, an Zerklüftun­gen mangelt. Man hört schöne Stellen, aber kein Konzept. Haitink hat man auch die Vierte übertragen, die aber eine andere, freundlich­ere Hausnummer und gewiss das leichter zu realisiere­nde Werk ist. Hier zeigt sich der holländisc­he Dirigent als Könner.

Solche Wechselbäd­er sind leider das Markenzeic­hen der Edition. Mariss Jansons kommt mit dem langsamen Satz der Sechsten besser zurecht als mit ihrem spröden Kopfsatz, Simon Rattle glückt ein wunderbare­s Scherzo in der Neunten, bekommt aber die Spannungen des Adagios nicht in den Griff. Die Achte unter Zubin Mehta ist ein kapitales Zeugnis dirigentis­cher Unzuständi­gkeit, sie klingt wie Puccini, der sich in den Linzer Stift Sankt Florian (Bruckners Wirkungsst­ätte) verlaufen hat. Die Dritte unter Herbert Blomstedt ertönt dagegen ungebührli­ch akademisch.

Viel besser ist die sehr intensiv ausgeleuch­tete, fast prismatisc­h gelungene Siebte unter Christian Thielemann, doch der Höhepunkt ist eindeutig die häufig unterschät­zte zweite Symphonie c-moll, die der großartige Paavo Järvi dirigiert. Der ist nun das Gegenteil des Mystikers oder Weichspüle­rs, vielmehr ein Spurensuch­er, der in Mittelstim­men großartige Details entdeckt und gleichwohl das Fenster öffnet und die Schwaden aus der Musik abziehen lässt. Bruckner ist für ihn ein moderner, in die Zukunft weisender Komponist, der sozusagen zwischen Richard Wagner und György Ligeti steht.

Als Zugaben enthält die Box ein dickes Booklet, eine Blu-ray-disc mit „hochaufgel­östem Pure Audio“und drei Blu-ray-discs mit Videomitsc­hnitten. Das ist ganz nett. Und natürlich spielen die Berliner superb. Aber wichtiger wäre es gewesen, wenn die Edition zum interpreta­torischen Meilenstei­n geworden wäre. Hier verderben viele Köche den Brei.

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FOTO: LYONS Dirigent Paavo Järvi überwältig­t mit der zweiten Symphonie c-moll.

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