Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss
Ein Ort zur Entschleunigung
Der Stadtgarten hat etwas zu bieten, das rar geworden ist in dieser Zeit: Es gibt wenig zu tun und nur ein bisschen was zu sehen – er ist ein idealer Ort zum Innehalten und zur Entschleunigung, und das mitten in der Stadt.
NEUSS Der britische „Entschleunigungspapst“Tom Hodgkinson singt in dem von ihm herausgegebenen „Buch der hundert Vergnügungen“ein Loblied auf die Parkbank. „In unserer immer stärker überwachten, digitalisierten und zweckorientierten Welt ist die Parkbank aus Holz ein Hafen der Freiheit inmitten der Großstadt“, heißt es dort, „auf der Bank können Sie lesen, dösen, Ihr Sandwich essen, meditieren und über die Müßigkeit menschlicher Wünsche nachdenken.“
Um den Wahrheitsgehalt dieser Sätze zu überprüfen, haben Sie es als Neusser nicht weit. Gehen Sie in den Stadtgarten, suchen Sie sich eine Bank, bevorzugt mit Blick auf die große Wiese. Lassen Sie sich nieder, kehren Sie dem Autoverkehr auf der Kaiser-friedrich-straße den Rücken – und schon geht’s los: Sie können die Augen schließen und Ihr Leben an sich vorbeiziehen lassen. Oder Sie können die Augen auflassen und das Leben um Sie herum beobachten. Im Stadtgarten gibt es immer was zu sehen. Nichts Spektakuläres, gewiss, denn der Stadtgarten ist der Gegenentwurf zu dem, was heute Freizeitpark heißt.
Das Areal, an der Schwelle zum 20. Jahrhundert unter Bauleitung von Ernst Schneider, dem späteren Gartenbaudirektor von Königsberg, angelegt, heißt ja auch bewusst „Stadt-garten“. Denn ein Garten ist ein Ort der Ruhe, des Bei-sich-seins, kurz ein Ort dessen, was man neudeutsch „Entschleunigung“nennt. Deshalb gibt es im Stadtgarten auch keine interaktiven Schautafeln zu irgendwas, keinen Fitnessparcours, keinen Baumwipfel-lehrpad und auch keine Gastronomie.
Es gibt, am Rand gelegen, einen gut ausgestatteten und entsprechend gut besuchten Spielplatz. Es gibt einen Weiher, auf dem bis vor dreißig Jahren gerudert werden durfte, der seither aber ganz den Enten, den Kanadagänsen und am Sonntagmorgen den Mitgliedern des Schiffsmodellbauvereins Neuss gehört, die dort ihre meist ferngesteuerten Boote zu Wasser lassen.
Und es gibt den 1934 vom Bildhauer Oswald Causin (1893 – 1963) gestalteten Eierdieb, der auch im digitalen Zeitalter erstaunlicherweise immer noch „die“Attraktion für Kinder darstellt – dass mal eines, egal aus welchem Land der Erde seine Eltern stammen, an der kleinen Skulptur vorbeiläuft, ohne innezuhalten, sie zu betrachten oder sogar zu besteigen, kommt selten vor.
Der Stadtgarten ist, zumindest weitgehend, ein Ort der Harmonie. Auf dem ihn umrundenden Franz-kellermann-weg, benannt nach dem städtischen Gartenbaudirektor (1875 – 1958), dem die Neusser die meisten Grünanlagen vom Rosengarten bis zum Nordpark verdanken, nehmen Radfahrer (seit neuestem offiziell erlaubt) Rücksicht auf Fußgänger und umgekehrt, packen Hundebesitzer die Hinterlassenschaften ihrer Vierbeiner in Plastiksäcke, bleiben Mütter, die Kinderwagen, und Großmütter, die Rollatoren schieben, beieinander stehen (in diesen Tagen natürlich mit gebührendem Abstand), um ein Schwätzchen zu halten.
Was für ein kitschiges Idyll, werden die denken, die den Stadtgarten (noch) nicht kennen. Nein, kein Idyll, aber einer der wenigen Rückzugsorte, die es in dieser Stadt noch gibt – und der am besten so bleiben sollte wie er ist. Nur eines würden sich die, die den Stadtgarten besuchen, egal ob zwei Mal am Tag oder ein Mal in der Woche, wünschen: Dass eine Stadt, die sich ernsthaft mit der Ausrichtung einer Landesgartenschau beschäftigt, ihren vorhandenen Ruhezonen ein bisschen mehr Pflege angedeihen lässt.