Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss
Tod und Zerstörung am Niederrhein
Weil der Plan der Alliierten scheiterte, bei ihrem Vorstoß den Rhein bei Arnheim zu überqueren, geriet die Stadt Wesel buchstäblich ins Fadenkreuz britischer Bomber. Die Stadt am Niederrhein wurde nahezu vollständig zerbombt.
WESEL/HAMMINKELN Entscheidungsschlacht ist ein großes Wort. Aus der Distanz von nunmehr 75 Jahren wurde es als Bezeichnung großer Militäroperationen im Zweiten Weltkrieg geradezu inflationär gebraucht. Dünkirchen, Luftschlacht über dem Ärmelkanal, Midway, El Alamein, U-boot-krieg, Stalingrad, Monte Cassino, Landung in der Normandie und Ardennen sind nur eine sehr kleine Auswahl von Stichworten zu Gefechten, die mindestens Wendepunkte im großen Weltenbrand genannt werden dürfen.
Auch der Niederrhein kommt in der langen Liste des damit verbundenen Grauens vor. Die Operationen „Plunder“(Plünderung) und darin eingebettet „Varsity“(Universität) gaben dem Krieg tatsächlich eine entscheidende Wendung. Sie ebneten den Alliierten im März 1945 vom Westen aus den Weg nach Berlin. Die Offensive kostete Tausende auf beiden Seiten das Leben und zerstörte viele alte Städte, die bis dahin vergleichsweise unbehelligt geblieben waren. Die Verhältnismäßigkeit der Gewalt ist bis heute umstritten. Unbestritten ist unter Historikern, dass viel Leid hätte vermieden werden können, wenn die Wehrmacht nicht bei Arnheim einen letzten Sieg errungen hätte.
Im Spätsommer des Jahres 1944 waren die Alliierten aus der Normandie so weit nach Osten gekommen, dass sie die Rheinüberquerung planen konnten. Der sogenannte Westwall links des Stroms war dem britischen Befehlshaber Bernard Montgomery nicht geheuer. Er wollte diesen nördlich von Kleve umgehen. Aber die am 17. September gestartete Luftlandeoperation „Market Garden“, mit der bei Arnheim die Brücke über den Niederrhein für nachrückende Bodentruppen eingenommen werden sollte, scheiterte. 1485 der 10.300 gelandeten Briten fielen, mehr als 6500 gingen in Gefangenschaft.
Der Preis war zu hoch gewesen, und es sollte noch viel schlimmer kommen. Denn im Rahmen der Planänderung, nun den Niederrhein zwischen Emmerich und Wesel für den Vorstoß ins Auge zufassen, waren unter anderem Antwerpen und die Scheldemündung zu erobern, um Nachschubwege
zu verkürzen. Außerdem gab es im Süden hartnäckigen Widerstand durch die deutsche Ardennenoffensive sowie ab dem 8. Februar 1945 auf deutschem Boden erbittert geführte Kämpfe in der Schlacht um den Reichswald bei Kleve. Immer mehr geriet Wesel mit seinen Brücken als Verkehrszentrum in den Brennpunkt.
Am 14. Februar wurde die Rheinbabenbrücke von Bomben getroffen, die Eisenbahnbrücke blieb mit Bohlen auch für Kraftfahrzeuge nutzbar. Was am 16., 18. und 19. Februar folgte, stellte alles in den Schatten, was die alte Hanse- und Festungsstadt und ihre Bewohner bis dahin zu erleiden gehabt hatten.
Die Alliierten gingen nach dem Desaster von Arnheim auf Nummer sicher, nutzten gute Wetterbedingungen und schickten am Morgen des 16. gut 100 Bomber Richtung Wesel. Vollalarm trieb die Menschen in die Keller und Bunker. Um 11 Uhr fielen die ersten Bomben. Der erste starke Angriff begann gegen 11.30 Uhr. In immer kürzeren Abständen flog die Royal Air Force Wesel an. Gegen Mittag folgte eine trügerische Ruhe. Während viele aus der Stadt flohen, wollten andere Verschüttete bergen oder irgendwie zu helfen versuchen.
Weil eine Alarmierung nun technisch nicht mehr möglich war, kam der Hauptangriff gegen 16 Uhr völlig überraschend. Rund 300 Bomber warfen in mehreren Wellen ihre zerstörerische Fracht über der schon arg angeschlagenen Stadt ab. Die schweren Detonationen sollen bis Essen und Krefeld zu hören gewesen sein. 401 Todesopfer unter den Zivilisten (insgesamt ist von rund 600 Toten die Rede) waren zu beklagen. Von den insgesamt 3280 Gebäuden blieben nur 60 unbeschädigt. Das ganze Ausmaß des Leids kann auch der damals ermittelte Zerstörungsgrad von etwas mehr als 97 Prozent kaum wiedergeben. Seitdem wird Wesel in einem Atemzug mit zerbombten Städten wie Dresden und Coventry genannt.
Nach der vollständigen Zerstörung Wesels hatten deutsche Pioniere am 10. März die Eisenbahnbrücke gesprengt. Die Alliierten bereiteten ihren Rheinübergang („Plunder“) am 23./24. März vor: 200 viermotorige Bomber warfen 1100 Tonnen ab, und 1300 Geschütze sorgten für Dauerfeuer. Engländer,
Schotten und Kanadier überquerten den Rhein bei Bislich, Amerikaner bei Friedrichsfeld. 1800 Briten eroberten Wesel.
Bei der Operation „Varsity“am 24. März zwischen Wesel, Hamminkeln und Mehrhoog flogen 1500 Flugzeuge und 1300 Lastensegler an. Sie setzten rund 21.000 Soldaten ab. Es war die größte jemals an einem Tag durchgeführte Luftlandeaktion. Den schweren Kämpfen fielen rund 1000 Menschen auf alliierter und 2000 auf deutscher Seite zum Opfer. Insgesamt waren am Rheinübergang zwischen Rees und Duisburg 35 britische, amerikanische und kanadische Divisionen mit 1,3 Millionen Mann beteiligt.
Die Details der Bombardierungen und Scharmützel sind ebenso akribisch dokumentiert wie ungeheuer viele Berichte von zivilen Zeitzeugen und einige Bilder, die gezielt um die Welt gingen: eine Luftaufnahme des pulverisierten Wesel und ein triumphierender Churchill.
Der britische Kriegspremier Winston Churchill ist beim Besuch seiner Truppen rund um den Rheinübergang vielerorts in der Region gewesen. Die wichtigste Demonstration der Stärke geht jedoch von einem Foto aus, das am 25. März auf dem heute nicht mehr vorhandenen Balkon des Lokals „Wacht am Rhein“in Büderich aufgenommen worden ist: Churchill beobachtet mit Us-general Dwight D. Eisenhower (1953–1961 Präsident der USA) und dem britischen Feldmarschall Bernard Montgomery (für seinen Sieg über Rommels Afrikakorps und weitere Verdienste später als Viscount Montgomery of Alamein geadelt) die Truppenbewegungen über den Fluss. Das Trio repräsentiert die Spitze der Westalliierten.
Im weiteren Verlauf des stets von Fotografen und Kameramännern begleiteten Fronttrips Churchills lässt er sich unter anderem zweimal selbst auf die rechte Rheinseite bringen. Einmal kraxelt er auf den Trümmern der Rheinbabenbrücke herum. Am 26. März 1945 hat der Premier dann geradezu idyllisch am Ufer in Bislich gefrühstückt. Dabei waren wieder Montgomery und Churchills Berater, Generalstabschef Alan Francis Alanbrooke. Ebenfalls eine illustre Runde, aber eben ohne Eisenhower.