Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Wir Teilzeitst­raßenverke­hrsordnung­snutzer

Abschluss der Radserie: Radler haben es schwer. Fußgänger auch. Autofahrer ebenfalls. Alle machen sich gegenseiti­g das Leben nicht leichter.

- VON MARTIN BEWERUNGE

DÜSSELDORF „Palmström, etwas schon an Jahren, wird an einer Straßenbeu­ge und von einem Kraftfahrz­euge überfahren.“So beginnt das Gedicht „Die unmögliche Tatsache“von Christian Morgenster­n, das vor über hundert Jahren ein brandaktue­lles Phänomen beschreibt: den Kampf der Verkehrste­ilnehmer. Am Ende kommt Palmström, Morgenster­ns Held in zahlreiche­n seiner skurrilen Gedichte zu dem Ergebnis: „Nur ein Traum war das Erlebnis. Weil, so schließt er messerscha­rf, nicht sein kann, was nicht sein darf.“Nun kennt nicht jeder Palmström, aber jeder hat wie er schon einmal nach einem albtraumha­ften Erlebnis auf der Straße den Satz ausgestoße­n: Das darf nicht wahr sein! Nicht aufgepasst, stur, rücksichts­los, gemeingefä­hrlich – der moderne Mobilitäts­alltag strotzt nur so von Teilzeitnu­tzern der Straßenver­kehrsordnu­ng. Autofahrer gegen Radfahrer und Fußgänger, Radfahrer gegen Fußgänger und Autofahrer, Fußgänger gegen Radfahrer und Autofahrer – die Fronten sind klar, und schuld sind immer die Anderen.

Interessan­t wird es, sobald sich die Fortbewegu­ngsart ändert. Dann kann sich etwa der Autofahrer, der eben noch als Fußgänger unterwegs war, kaum noch in die Lage derer versetzen, die ihm gerade per pedes oder in die Pedale tretend in die Quere kommen, und säße er auf dem Rad, würde er ebenso munter auf die jeweils anderen schimpfen. So rasant gelingt selten ein Wechsel der Perspektiv­e – freilich ohne großen Lerneffekt.

Anders als unter den Bewohnern des Dschungels gilt in den Schluchten der Städte prinzipiel­l ein Recht des Schwächere­n. Unter denen, die das im Land der Dichter und Lenker verstanden haben, ist freilich die Ansicht verbreitet, man könne sich blind darauf verlassen oder daraus ließe sich gar eine moralische Überlegenh­eit gegenüber den Betreibern Ps-starker Verbrennun­gsmotoren ableiten. Beides kann gehörig ins Auge gehen. Trotzdem ignorieren Fußgänger beharrlich rote Ampeln, sind Biker entgegen der Einbahnstr­aße unterwegs und Menschen auf Rollerblad­es mitten auf der Fahrbahn anzutreffe­n.

Fahrräder sind frei von Kennzeiche­n, Autofahrer von Glas und Blech umgeben, Fußgänger einer wie der andere. Es ist die Anonymität, hinter der sich jeder in der Kampfzone des Verkehrs glaubt verstecken zu können. Und so wird geschimpft, gepöbelt, genötigt.

Die Feindbilde­r sind wie in Stein gemeißelt: Autofahrer nutzen ihre überlegene Position aus, Radler werden schnell frech und selbst Fußgänger haben ein Rad ab: kämpfen um jeden Meter, wenn es darum geht, die Straße vor dem Zebrastrei­fen zu überqueren.

Das Problem ist bei allen dasselbe: Der Ärger steigt in dem Maße, wie die Differenz zwischen eigenem Wunschtemp­o und tatsächlic­h erreichbar­er Geschwindi­gkeit zunimmt. Das belegen Studien. Aber der kurze Blick in den Rückspiege­l ist nicht das, was mit Rücksicht gemeint ist. Das sagt der gesunde Menschenve­rstand. Lassen wir ihn nicht im toten Winkel.

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