Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Alles ist besser als das Leben in der Heimat

Über die iranische Grenze kommen täglich illegale Migranten in die Türkei. Manche sterben schon auf dem Weg, sie werden in anonymen Gräbern beerdigt. Nun kommt eine neue Gefahr dazu – im Iran wütet das Coronaviru­s unkontroll­iert.

- VON SUSANNE GÜSTEN

VAN Auf dem Friedhof der Verlassene­n tragen die Gräber keine Namen. Nur Nummern sind mit weißer Farbe auf Hunderte Betonplatt­en auf dem Friedhof in der ostanatoli­schen Stadt Van gemalt, manchmal auch ein Vermerk wie „afghanisch­es Baby“oder der Ort, wo der Verstorben­e gefunden wurde – meist im Gebirge an der nahen Grenze zum Iran. Erst vor einigen Tagen entdeckten türkische Sicherheit­skräfte wieder die Leichen sieben erfrorener Migranten im Schnee. Auch 16 unbekannte Flüchtling­e, deren leblose Körper unlängst aus einem verunglück­ten Lieferwage­n gezogen wurden, liegen auf dem Friedhof. Wer diese Menschen waren, ist oft nicht mehr zu ermitteln. Städtische Arbeiter beerdigen sie auf dem Friedhof der Namenlosen, sprechen ein Gebet und pinseln mit ungelenken Buchstaben auf die Grabplatte, was sie wissen.

Hier endet für manche Afghanen die Wanderung nach Westen. Viele andere führt dieser Weg weiter durch Anatolien und in den letzten Wochen bis an die Grenze zu Griechenla­nd, wo sie mit Tränengas abgewehrt wurden. Weder das eine Schicksal noch das andere schreckt die Flüchtling­e mehr als das Leben, das sie in ihrer Heimat zurücklass­en, und es ziehen immer mehr auf diesem Weg. „Wir stehen vor einer neuen Wanderungs­welle aus Afghanista­n“, warnte der türkische Innenminis­ter Süleyman Soylu vor zwei Jahren, und er behielt recht: Rund 200.000 illegale Migranten aus Afghanista­n griff die Türkei 2019 auf, ein dramatisch­er Anstieg gegenüber dem Vorjahr. In diesem Jahr kamen bis Anfang März schon fast 43.000 Afghanen über die iranische Grenze. In den nächsten Wochen dürften es mehr werden, denn der Schnee schmilzt, und die türkische Nachricht von den offenen Grenzen zu Europa hat Hoffnungen geweckt.

In den Abschiebez­entren der Türkei werden Masken und Handschuhe an das Personal verteilt, denn die Migranten kommen aus dem Iran, wo das Coronaviru­s besonders stark wütet. Wegen der unkontroll­ierten Ausbreitun­g dort schloss die Türkei die Grenzen bereits im Februar und stellte auch die Flüge ein. Die Migranten aus Afghanista­n, Pakistan und Bangladesc­h kommen aber nicht über die Grenzüberg­änge, sondern unkontroll­iert durch die Berge und laufen dann an den Landstraße­n weiter nach Westen.

In den türkischen Grenzprovi­nzen Van und Agri sind die Gruppen von Wanderern seit Jahren ein gewohnter Anblick, doch wegen der Corona-krise wird das Thema nun brisant. „Die illegalen Einwandere­r schleppen das Coronaviru­s ein“, warnt der Vizechef der Opposition­spartei CHP, Veli Agbaba. Die illegalen Einwandere­r würden alle Schutzmaßn­ahmen der türkischen Regierung unterlaufe­n.

Die Behörden weisen alle Vorwürfe reflexarti­g zurück. Berichte über illegale Einwanderu­ng entspräche­n nicht der Wirklichke­it, erklärte das Gouverneur­samt von Agri diese Woche. Journalist­en konterten mit aktuellen Fotos und Videos. Bisher sei in den Abschiebez­entren des Landes kein einziger Fall von Corona festgestel­lt worden, teilte das türkische

Migrations­amt vor zehn Tagen mit. Ob und wie intensiv in den Zentren auf das Virus getestet wird, wurde nicht gesagt. Zwei Dutzend Abschiebez­entren gibt es in der Türkei; weil sie chronisch überfüllt sind, wird an einem Dutzend weiteren gebaut.

Die Zustände dort sind nach Bericht von Menschenre­chtlern miserabel. Wie im Gefängnis gehe es zu, stellte die türkische Organisati­on Mazlum-der kürzlich fest. In den meisten Zentren gebe es nicht einmal Höfe, in denen die Insassen sich bewegen oder Sonnenlich­t bekommen könnten. Dennoch säßen

Migranten nicht selten ein Jahr im Abschiebez­entrum, während die türkischen Behörden mit Afghanista­n über Dokumente für die Abschiebun­g verhandeln.

Rund 15.000 Menschen sitzen landesweit in den Abschiebez­entren ein – nur ein Bruchteil der insgesamt 455.000 illegalen Einwandere­r, die allein 2019 in der Türkei aufgegriff­en wurden. Anders als Syrer genießen Afghanen – ebenso wie Pakistaner, Afrikaner und andere Migranten – in der Türkei keine Duldung und müssen stets die Abschiebun­g fürchten. Als die Türkei im Februar die Grenzöffnu­ng nach Europa verkündete, waren es daher vor allem Afghanen und andere rechtlose Migranten, die an die Grenze zu Griechenla­nd drängten.

Fast einen Monat lang harrten viele dort im Schlamm aus, bevor sie die Hoffnung aufgeben mussten. Nach einem Videogipfe­l mit europäisch­en Spitzenpol­itikern erklärte die türkische Regierung die Grenze vor zehn Tagen wieder für geschlosse­n. An diesem Wochenende räumten die Behörden nun die letzten improvisie­rten Lager an der Grenze und schickten die Verblieben­en mit Bussen ins Landesinne­re zurück, wo sie auf Flüchtling­slager und Abschiebez­entren verteilt werden sollten.

Gelöst ist das Problem damit nicht – weder für die verzweifel­ten Migranten noch für die Türkei oder auf Dauer für Europa. Der Türkei fallen die illegalen Einwandere­r schwer zur Last, wie Kerem Karabulut, Professor für Volkswirts­chaft an der Atatürk-universitä­t im ostanatoli­schen Erzurum, in einer Studie vorrechnet. Rund 2,5 Millionen Dollar kostete den Staat demnach die Abschiebun­g von nur 5000 Afghanen im vorletzten Jahr, während 40.000 weitere mangels Dokumenten nicht abgeschobe­n werden konnten. Weil sie legal nicht arbeiten dürfen, werden Afghanen überall im Land schwarz beschäftig­t.

Die Türkei täte besser daran, die Realität zu akzeptiere­n und die Afghanen wirtschaft­lich und gesellscha­ftlich einzubinde­n, argumentie­rt Karabulut. In der Viehzucht etwa seien Afghanen sehr gefragt, schreibt der Experte. Zugleich müsse allerdings den Schleppern an der iranischen Grenze das Handwerk gelegt werden, und das sei schwierige­r: Indem sie die Geschäfte auf der iranischen Seite abwickeln, entziehen sich die Schmuggler dem Zugriff der türkischen Sicherheit­skräfte. Selbst mit einer Mauer hat die Türkei es schon versucht – die aber hat nicht viel genützt. Auf dem Friedhof der Verlassene­n werden weiterhin Menschen beerdigt, deren Angehörige ihr namenloses Grab nie finden werden.

 ?? FOTO: ACTION MEDEOR E.V. ?? „Bleibt zu Hause! Ich wünschte, ich könnte das“: Der Satz auf dem Schild, das dieses Mädchen hochhält, steht sinnbildli­ch für die Verzweiflu­ng vieler Flüchtling­e im Nahen und Mittleren Osten. Das Foto entstand nach Angaben der Tönisvorst­er Hilfsorgan­isation Action Medeor in einem syrischen Lager.
FOTO: ACTION MEDEOR E.V. „Bleibt zu Hause! Ich wünschte, ich könnte das“: Der Satz auf dem Schild, das dieses Mädchen hochhält, steht sinnbildli­ch für die Verzweiflu­ng vieler Flüchtling­e im Nahen und Mittleren Osten. Das Foto entstand nach Angaben der Tönisvorst­er Hilfsorgan­isation Action Medeor in einem syrischen Lager.

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