Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss
Neue Gesellschaft im Blick
Mitte August startet die letzte Ruhrtriennale-saison von Intendantin Stefanie Carp. Im Programm finden sich viele Bekannte aus den vorangegangenen Spielzeiten wieder.
BOCHUM Mit „Zwischenzeit“hat Stefanie Carp ihre dreijährige Intendanz der Ruhrtriennale überschrieben. Sie bezeichnet mit diesem Begriff die Zeit des Umbruchs, die wir gerade erleben; eine Zeit, in der plötzlich die europäischen Demokratien wieder in Gefahr sind, in der es darum geht, ob Gesellschaften sich mehr abschotten oder öffnen, ob und wie sie die Gräuel ihrer Geschichte aufarbeiten. Im ersten Jahr hat Stefanie Carp das Kolonialzeitalter in den thematischen Fokus genommen. Im zweiten Jahr ging es um europäische Selbstkritik. Im dritten Jahr soll es um die Chance gehen, Gesellschaft anders und neu zu gestalten. Bei den 33 Produktionen und Projekten, die vom 14. August bis zum 20. September im Ruhrgebiet und in Wuppertal zu sehen sein werden, sind viele berühmte Bekannte aus Carps ersten Ruhrtriennale-jahren dabei.
Christoph Marthaler Der Regisseur Christoph Marthaler ist Artiste associé von Stefanie Carps Ruhrtriennale, was bedeutet, dass er jedes Jahr ein großes Stück Musiktheater erarbeitet. Dieses Jahr ist das die neue Kreation „Die Verschollenen (für großes Orchester)“, bei der er erneut mit den Bochumer Symphonikern zusammenarbeitet. Im Zentrum steht Alexander Skrjabins Orchesterstück „Le Poème de l’extase“, das 1908 in einer verwirrenden Zeit des Übergangs in ein Zeitalter der entfesselten Industrialisierung uraufgeführt wurde. Kurze Zeit später schrieb Franz Kafka mit seinem Amerika-roman „Der Verschollene“ein Dokument der Orientierungslosigkeit und enttäuschten Hoffnungen dieser Zeit. Marthaler bringt beides zusammen, befasst sich mit der Verlorenheit und dem Suchen und Finden von Utopien. Zu seinem künstlerischen Team gehören auch die Geigerin Veronika Eberle und der Elektro-cellist und Avantgarde-musiker Martin Schütz. Sie bringen neben Skrjabin auch Iannis Xenakis’ „Shaar“und Kompositionen von Béla Bartók und György Kurtág in Bewegung (ab dem 14. August in der Jahrhunderthalle Bochum).
William Kentridge Als Stefanie Carps erste Ruhrtriennale-saison 2018 mit der fulminanten Breitwand-arbeit „The Head And The Load“von William Kentridge über die Schrecken des Kolonialzeitalters
in Afrika eröffnete, waren die Diskussionen um Carps schwammige Haltung zur israelkritischen Bds-bewegung fast vergessen. In diesem Jahr beschließt Kentridge das Festival mit dem neuen Werk „Waiting for the Sibyl. The Moment Has Gone“(ab 13. September wieder in der Duisburger Kraftzentrale) als Deutsche Erstaufführung. In seiner einzigartigen Bild- und Musiksprache aus animierten Zeichnungen, Film, Performance und Gesang erforscht er zunächst in einer Kammeroper mit Kompositionen von Nhlanhla Mahlangu und Kyle Shepherd den Mythos der Cumäischen Sibylle und die Frage, warum wir für kollektive und individuelle Katastrophen ein Schicksal brauchen. Es folgt ein Animationsfilm aus Kohlezeichnungen, in dem Motive der Kammeroper aufgegriffen werden.
Achille Mbembe Obwohl Stefanie Carp mit vielen beeindruckenden Inszenierungen zum Schrecken des Holocaust im vergangenen Jahr Kritiker in ihre Schranken verwies, die ihr eine unklare Haltung zum Existenzrecht des Staates Israel unterstellt hatten, ist die Diskussion um israelkritische Haltungen auf staatlich geförderten Kulturfestivals in Deutschland im Zusammenhang mit ihrer Ruhrtriennale doch nie abgebrochen. Auch dieses Jahr könnte sie wieder losbrechen, weil der kamerunische Historiker Achille Mbembe einen Aufruf der Israel-boykott-bewegung BDS unterzeichnet hat und in einem Aufsatz die Innenpolitik Israels mit dem Apartheidssystem Südafrikas und diese mit dem Holocaust verglichen. Unbestreitbar sind allerdings seine Leistungen auf dem Gebiet der postkolonialen Theorie. In seiner Rede am 14. August in der Bochumer
Turbinenhalle wird er sein Konzept der „Reparation“und die Modalitäten dessen, was er „planetarisches Leben“nennt, erläutern.
Weitere Tipps Unbedingt ansehen sollte man sich „Cascade“(ab 10. September in Pact-zollverein), die erste Ensemblearbeit der Tanz-choreographin Meg Stuart seit 2015, bei der sie mit dem wunderbaren Theatermacher Philippe Quesne zusammenarbeitet. Wieder dabei ist der große ungarische Theatermacher Kornél Mundruczó, der mit Kata Wéber „Pieces of a Woman“erarbeitet hat (ab 16. September in der Jahrhunderthalle Bochum), das am Theater TR Warschau groß gefeiert wurde. Das Stück „Futureland“erzählt in Form eines Videospiels die Geschichte von acht geflüchteten Jugendlichen (ab 20. August in der Turbinenhalle Bochum). Und mit dem argentinischen Regisseur Mariano Pensotti kehrt ein weiterer Künstler zurück, der auf der Ruhrtriennale bereits für einen Erfolg sorgt. In „Die Jahre“erzählt er parallel die Lebensgeschichte eines Mannes in zwei Lebensabschnitten (ab 3. September, Jahrhunderthalle Bochum).