Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Rückhalt der Japaner für Olympia bröckelt

Über Jahre schien die Vorfreude der Gastgeber auf die Spiele unerschütt­erlich. Das ändert sich. Die Wettkämpfe sollen im Sommer 2021 steigen.

- VON FELIX LILL

TOKIO „Olympia sollte jetzt lieber ganz ausfallen“, sagt Misako Takase. Die Stewardess aus Narita, einer Stadt im Osten von Tokio, hatte sich eigentlich auf die Spiele von Tokio gefreut. Aber jetzt ist sie empört. „Die Organisato­ren haben schon viel zu lange damit gewartet. In Japan waren längst alle möglichen Großverans­taltungen abgesagt. Nur die Olympische­n Spiele sollten unbedingt durchgezog­en werden.“Und die Entscheidu­ng, der neue Starttermi­n solle nun höchstens um ein Jahr verlegt werden, besorgt die 40-Jährige besonders. „Bis dahin gibt es doch vielleicht immer noch keinen Impfstoff für alle Menschen. Warum sollte es dann sicher sein?“

Nach Berichten aus Japan und der „New York Times“könnte der Neustart mit einer Eröffnungs­feier am 23. Juli 2021 erfolgen. Die Schlussfei­er wäre demnach am 8. August. Die wegen der Coronaviru­s-pandemie abgesagten Spiele waren ursprüngli­ch für den 24. Juli bis 9. August 2020 geplant gewesen.eine offizielle Bestätigun­g gab es nicht. Das IOC teilte am Sonntag auf Anfrage mit, dass dies „Spekulatio­nen“seien.

Womöglich teilt in Japan nicht jeder diese Gründe für die Ablehnung gegen Olympia, die Misako Takase nun empfindet. In ihrer Schlussfol­gerung aber entspricht sie wohl der Mehrheit der Menschen in Japan. Zwei Drittel wollten zuletzt offenbar, dass „Tokyo 2020“nicht etwa verschoben wird, sondern gar nicht mehr stattfinde­t. Dies ist das Ergebnis einer Umfrage von Yahoo Japan, an der in diesem Monat 76.000 Online-user in Japan teilgenomm­en haben. Selbst wenn die Befragung nicht wissenscha­ftlichen Kriterien der Repräsenta­tivität entspricht, gibt sie ein überrasche­ndes Stimmungsb­ild ab: Japan scheint die Lust vergangen zu sein.

Es ist das erste Mal, dass sich aus dem ostasiatis­chen Land eine unübersehb­are Opposition gegen das größte Sportevent der Welt zeigt. Von größerer Skepsis war bisher nur zu hören, als Olympia in Japan noch lange noch Zukunftsmu­sik war. Nach der Dreifachka­tastrophe aus Erdbeben, Tsunami und Atomdesast­er im März 2011 hatten im Nordosten des Landes Hunderttau­sende ihr Zuhause verloren, an die 20.000 Menschen waren gestorben, ganze Regionen wurden unbewohnba­r. Damals fragte man sich in Japan vermehrt, ob es wirklich angebracht wäre, angesichts all der Zerstörung viel Geld für Olympische Spiele in Tokio auszugeben.

Die Skepsis verschwand, als japanische Athleten bei den Spielen von London 2012 stark abgeschnit­ten und sieben Goldmedail­len gewonnen hatten. Parallel hatte das Tokioter Bewerbungs­komitee, das sich zuvor schon erfolglos für die 2016er Spiele beworben hatte, eine intensive Pr-kampagne betrieben: Olympia in Tokio würden „Spiele des Wiederaufb­aus“werden, das ganze Land würde profitiere­n. Außerdem würden japanische Athleten mit Heimvortei­l noch viel mehr Medaillen holen als in London. Die Strategie funktionie­rte. Einige Tage vor der Ioc-generalver­sammlung in Buenos Aires im September 2013, als Tokio das Austragung­srecht gegen Istanbul und Madrid gewann, zeigte eine Umfrage: 92 Prozent der Menschen in Japan waren für Olympia in Tokio.

„Die Bewerbung basierte aber auf einer Lüge“, sagt Hiroki Ogasawara. Der Professor für Soziologie an der Universitä­t Kobe ist Herausgebe­r eines Buchs, dessen Titel sich mit „Anti-tokio-olympia Manifest“übersetzen lässt. Zu den Unterstütz­ern der Idee von Olympische­n Spielen in Tokio gehörte Ogasawara nie. „Die Verknüpfun­g von Wiederaufb­au und Olympia ist Blödsinn. Das eine hat nichts mit dem anderen zu tun. Vor allem dann nicht, wenn Olympia in Tokio stattfinde­t, das sowieso schon die beste Infrastruk­tur in ganz Japan hat.“

Die Veranstalt­ungen wiederum, die in Fukushima geplant sind, sollen weit entfernt von den beschädigt­en Gebieten laufen. „Die Wiederaufb­au-rhetorik war immer reine Symbolpoli­tik. In mehreren beschädigt­en Gebieten wurde der Wiederaufb­au durch den olympiabed­ingten Bauboom in Tokio sogar gehindert.“Dass auch dann noch auf dem geplanten Olympiabeg­inn am 24. Juli 2020 beharret wurde, als die Weltgesund­heitsorgan­isation schon eine Pandemie ausgerufen hatte, habe die Motive der Organisato­ren noch deutlicher offenbart. „Sie wollten ein großes Event veranstalt­en, mit viel Patriotism­us, damit die Menschen Probleme wie in Fukushima vergessen können.“

Über Wochen sah es für viele Japaner nun so aus, als wären die Organisato­ren für ihren Wunsch nach einem Spektakel auch bereit, die Gesundheit der Menschen zu riskieren. Es ist dieser Eindruck, der die Spiele jetzt in einem anderen Licht erscheinen lässt. „Damit Olympia wie geplant stattfinde­n kann, hat die Regierung bis jetzt wohl vieles ignoriert“, schätzt Azusa Yokota, eine 35-jährige Lehrerin aus Tokio.

„Warum sonst stieg die offizielle Zahl von Covid-19-infizierte­n in Tokio genau einen Tag, nachdem die Olympia-verschiebu­ng entschiede­n war, so stark an wie noch nie?“Yokota befürchtet, Offizielle haben solange eher wenig getestet, wie es noch möglich erschien, dass die Olympische­n Spiele diesen Sommer stattfinde­n könnten. Am Mittwoch verzeichne­te Tokio mit 41 Neuinfizie­rten seinen bisher höchsten Anstieg an einem Tag. Am selben Tag riet Gouverneur­in Yuriko Koike den Bewohnern dazu, bis auf Weiteres möglichst zu Hause zu bleiben.

Es sind seltsam misstrauis­che Stimmen, die man überall in Japan hört. Hiroki Ogasawara glaubt, man hätte sie schon vorher vernommen, wäre die Bevölkerun­g von Anfang an umfassend und kritisch informiert worden. „Aber in Japan gehört jede der fünf größten Tageszeitu­ngen zu den offizielle­n Partnern von Tokyo 2020. Wie soll man da kritische Berichters­tattung erwarten?“

Ogasawara glaubt zwar nicht dran, dass sich die Politik dazu hinreißen lassen wird, aber seine Forderung ist jetzt klar: „Wir müssen endlich eine Volksabsti­mmung über die Frage machen, ob die Menschen Olympia wirklich wollen.“Bisher hatte das niemand der Organisato­ren für nötig gehalten. „Aber jetzt ist es überfällig. Durch die Verschiebu­ng wird ja alles auch noch teurer als ohnehin schon.“Die zusätzlich­en Kosten einer Olympia-verschiebu­ng um ein Jahr werden auf 5,8 Milliarden Us-dollar geschätzt. Das ist fast die Hälfte des für „Tokyo 2020“veranschla­gten Budgets. (mit dpa)

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