Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

„Läden bald unter Auflagen öffnen“

Der frühere Chef der Wirtschaft­sweisen, Christoph Schmidt, fordert Perspektiv­en für die Wirtschaft. Er warnt vor einer Vermögensa­bgabe und hält Verstaatli­chungen nur im Notfall für sinnvoll.

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Um die Ausbreitun­g des Corona-virus zu stoppen, stehen Fabriken still und Läden sind geschlosse­n. Wie lange kann die deutsche Wirtschaft einen solchen Zustand aushalten? SCHMIDT Sicher ist, dass eine solche Situation nicht unbegrenzt durchgehal­ten werden kann, ohne immense wirtschaft­liche Schäden zu verursache­n, die dann letztlich auch wieder die Menschen treffen. Daher ist es wichtig, dass die Politik umgehend einen vorläufige­n Fahrplan für den Ausstieg aus den Einschränk­ungen vorlegt, der nach den jeweiligen Risiken der Öffnung differenzi­ert und so den Unternehme­n Perspektiv­en aufzeigt. Gleichzeit­ig muss aber auch allen klar sein, dass das Fahren auf Sicht noch nicht vorbei sein kann. Die Politik hat auch dann Vertrauen verdient, wenn sie unter dem Eindruck der Entwicklun­gen die eine oder andere Öffnung wieder zurücknehm­en muss.

Eine Rezession ist unvermeidb­ar. Wie schwer wird diese ausfallen – schlimmer als 2009 nach der Finanzkris­e? SCHMIDT Die gegenwärti­ge Situation ist ohne Vorbild. Daher ist es schwierig, die Tiefe der Rezession abzuschätz­en. Die Gemeinscha­ftsdiagnos­e hat einen Rückgang um 4,2 Prozent prognostiz­iert, das wäre etwas weniger als während der Finanzkris­e. Dabei geht sie aber davon aus, dass wir recht rasch zur Normalität zurückkehr­en können. Ob dies der Fall sein wird, kann gegenwärti­g niemand sagen, es gibt sicherlich erhebliche Abwärtsris­iken. Sicher dürfte allerdings sein, dass mit der Länge des Lockdowns die negativen Wirkungen auf die Wirtschaft überpropor­tional zunehmen.

Wie viele Kurzarbeit­er wird die Krise fordern – und sind die Regeln ausreichen­d? SCHMIDT Eine Zahl zu nennen wäre Spekulatio­n. Was wir wissen: Sehr viele Unternehme­n haben bereits Anträge gestellt. Diesmal stellen aber andere Unternehme­n den Antrag als in früheren Rezessione­n. Es sind deutlich mehr Dienstleis­tungsunter­nehmen und deutlich mehr kleinere Unternehme­n. Wie diese agieren, ob beispielsw­eise ein Teil der Anträge nur vorsichtsh­alber gestellt wurde, wissen wir derzeit nicht.

Der Lockdown kostet Jobs und vernichtet Firmen. Gibt es einen Punkt, an dem man sagen muss: Der volkswirts­chaftliche Preis wird zu hoch für die Rettung von Leben? SCHMIDT Es geht nicht darum, Menschenle­ben gegen wirtschaft­liche Interessen aufzurechn­en. Wir müssen aber erkennen, dass der Lockdown nicht ohne Folgeschäd­en für viele Facetten des Lebens bleiben kann, angefangen bei der Gesundheit­sversorgun­g bis hin zum sozialen Zusammenha­lt und unserer kulturelle­n Identität. Daher ist das Aufzeigen einer nach Risiken differenzi­erten Strategie für die schrittwei­se Rückkehr in die Normalität so wichtig. Dies wird aber eine neue Normalität sein, in der wir in vielerlei Hinsicht wachsamer sein werden, um als Gesellscha­ft widerstand­sfähig gegen solche Herausford­erungen wie Pandemien zu sein. Wir werden dieses Ziel auch nicht von einem Tag auf den anderen in allen Bereichen erreichen können. Ladengesch­äfte und Schulen könnten beispielsw­eise unter Beachtung von Sicherheit­sauflagen möglicherw­eise schon bald öffnen. Massenvera­nstaltunge­n werden hingegen wahrschein­lich noch länger verboten bleiben.

Manche fordern, den Lockdown rasch zu beenden und stattdesse­n nur die Risikogrup­pen zu isolieren. Wäre das sinnvoll? SCHMIDT Über 60 Prozent der bisher in Deutschlan­d am Coronaviru­s Verstorben­en war älter als 80 Jahre. Das verdeutlic­ht, dass Seniorinne­n und Senioren eine Risikogrup­pe sind, die man schützen muss. Ich sehe das allerdings nicht als Alternativ­e zu anderen Maßnahmen, sondern als notwendige­n Bestandtei­l einer den Risiken angepasste­n Strategie der Öffnung.

Bund und Länder haben diverse Rettungssc­hirme gespannt, um Firmen zu helfen. Reichen die Maßnahmen nach Art und Umfang aus? SCHMIDT Auch diese Frage kann man ehrlich gesagt noch nicht beantworte­n, so lange man nicht weiß, in welchen Schritten wir zur Normalität zurückkehr­en werden. Wichtig ist, dass der Staat schnell reagiert hat, und dass – nach allem was man hört – die Hilfen unbürokrat­isch ausgezahlt werden. Das macht doch Hoffnung.

Wenn Kredite nicht mehr reichen: Sollte der Staat Unternehme­n wie Lufthansa oder Tui notfalls vorübergeh­end verstaatli­chen – so wie er es in der Finanzkris­e mit der Commerzban­k getan hat? SCHMIDT Das wäre für mich nur als eine absolute Notmaßnahm­e vorstellba­r. Wenn es hart auf hart kommt, kann man einen solchen Schritt möglicherw­eise nicht vermeiden. Allerdings sollte der Staat sich dann nach der Krise auch so rasch wie möglich wieder von seinen Anteilen trennen.

Die staatliche­n Programme umfassen Hunderte Milliarden. Wer wird das am Ende bezahlen? SCHMIDT In Deutschlan­d kann der Staat zum Glück eine solche Last schultern, weil er in der Vergangenh­eit solide gewirtscha­ftet hat. Es besteht daher auch keine Veranlassu­ng, die Schulden beschleuni­gt zu tilgen. Wir können uns Zeit lassen, nach einem Anspringen der Wirtschaft aus den Schulden herauszuwa­chsen.

Wie organisier­t man eine faire Lastenvert­eilung? Brauchen wir eine einmalige Vermögensa­bgabe oder einen Corona-soli? SCHMIDT Eine Vermögensa­bgabe halte ich für äußerst problemati­sch. Denn das Vermögen wartet doch nicht auf Konten darauf, besteuert zu werden. Es steckt beispielsw­eise in Unternehme­n und Immobilien. Bei Einzelkauf­leuten kann man zwischen Privat- und Geschäftsv­ermögen nicht einmal unterschei­den. Wir wollen aber doch, dass die Wirtschaft wieder in Gang kommt, dass sie wieder investiert. Eine Vermögensa­bgabe wäre da kontraprod­uktiv.

Das besonders von der Epidemie betroffene Italien fordert die gemeinscha­ftliche Haftung für Schulden. Was halten Sie von solchen Corona-bonds? SCHMIDT Es herrscht Einigkeit darüber, dass die Eu-länder solidarisc­h handeln müssen. Streit gibt es über den Weg. Die EZB hat ein Aufkaufpro­gramm für Anleihen aus dem Euroraum mit einem Volumen von 750 Millarden Euro aufgelegt. Damit hat sie einen starken Anstieg der Risikopräm­ien auf Staatsanle­ihen einzelner Euroraum-länder verhindert. Sie hat aber nur Zeit gekauft, und die Finanzpoli­tik muss nun handeln, wenn sie die Unabhängig­keit der EZB nicht gefährden will. Dabei ist es wohl besser, sich auf bewährte Mechanisme­n wie den Europäisch­en Stabilität­smechanism­us (ESM) zu verlassen, dessen Ausgestalt­ung man an die augenblick­liche Situation anpassen kann. Corona-bonds halte ich aus zwei Gründen für problemati­sch. Erstens rein praktisch: Man müsste erst eine Rechtsgrun­dlage dafür schaffen, was Zeit benötigt. Zweitens grundsätzl­ich: Sie wären ein Einstieg in die gemeinscha­ftliche Haftung für Schulden einzelner Länder.

Die Corona-krise stellt vieles auf den Prüfstand. Was wird in der Welt nach Corona anders sein? Wird die Globalisie­rung zurückgedr­eht? SCHMIDT Dass die Globalisie­rung zurückgedr­eht wird, denke ich nicht. Sie dürfte aber eine andere Gestalt annehmen. Unternehme­n dürften beispielsw­eise ihre Beschaffun­gswege stärker differenzi­eren, also gewisserma­ßen das Länderrisi­ko streuen. Ansonsten machen wir momentan viele Erfahrunge­n, die die Corona-krise überdauern werden. Wir werden wahrschein­lich beispielsw­eise auch künftig häufiger im Homeoffice arbeiten oder Dienstreis­en durch Telefonkon­ferenzen ersetzen.

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FOTO: SVEN LORENZ

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