Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss
Wie das Virus Varius ausbremst
700 Beschäftigte vermissen die Arbeit, denn sie müssen zu Hause bleiben. Ihre Meister und Betreuer versuchen, Kontakt zu halten.
GREVENBROICH Der Boden blitzeblank, die große, blau-graue Säge grundgereinigt und ausgeschaltet. In normalen Zeiten wäre rings um Gruppenleiter Norbert Kaumanns jetzt viel Betrieb – in der Schreinerei der Varius Werkstätten. Bis zu 60 Mitarbeiter erledigen hier die Aufträge aus zahlreichen Unternehmen im Rhein-kreis. Termintreu und in hoher Qualität. Nun steht alles still. 700 Beschäftigte aus fünf Varius-betriebsstätten müssen derzeit zu Hause bleiben und dürfen nicht wie gewohnt arbeiten.
„Für unsere Leute ist das eine extrem schwierige Zeit“, weiß die Pädagogische Leiterin, Birgit Krahwinkel. Denn für Menschen mit Handicap ist die Arbeitsstelle noch mehr Lebensmittelpunkt als für die sogenannten Normalos. Die allermeisten arbeiten mit sehr viel Freude an ihren Produkten und Aufträgen. Seit das Land Nordrhein-westfalen am 19. März auch die Behindertenwerkstätten dichtmachte, fällt das alles weg.
Zunächst reagierten die Betroffenen erst einmal wie ganz normale Arbeitnehmer. Sie freuten sich über ein paar zusätzliche Urlaubstage – bei vollem Lohnausgleich. Doch je länger die Zwangspause dauert, desto unruhiger werden die Varius-mitarbeiter. „Wir haben eine eigene Telefon-hotline und eine Facebook-gruppe für sie und ihre Angehörigen eingerichtet“, berichtet Birgit Krahwinkel. Fünf der 700 beschäftigten befinden sich tagsüber in einer Notbetreuung, alle übrigen werden von ihren Angehörigen und in ihren Wohngruppen betreut. Bei etlichen Einrichtungen unterstützen in diesen Tagen Betreuer von Varius die örtlichen Teams zu den Zeiten, in denen die Behinderten normalerweise in einer der Werkstätten arbeiten würden.
„Zudem versuchen unsere Gruppenleiter Kontakt zu den Mitarbeitern in ihren Teams zu halten“, sagt Birgit Krawinkel, die selbst zahlreiche Telefonate führt. Einige Gesprächspartner hätten vorsichtig angefragt, ob denn der Lohn auch für die Ausfallzeit bezahlt wird.
Denn häufig sparen die Beschäftigten auf ein ganz bestimmtes Ziel hin. Am allermeisten aber hörte Birgit Krahwinkel diese Sätze in den vergangenen Tagen: „Wann machen wir denn wieder auf? Mir ist zu Hause so langweilig und ich möchte meine Freunde wiedersehen.“Die arbeiten oft im selben Team – und dürfen derzeit auch nicht kommen.
In der Ausbildungsabteilung der Varius Werkstätten versuchen die Meister und Gesellen derzeit, über das Internet Aufgaben an die Azubis zu verteilen. Klar, dass es sich dabei um den theoretischen Teil einer Ausbildung handelt, der zur Not auch zu Hause am Küchentisch erledigt werden kann; sofern ein kundiger Betreuer im Hintergrund für Fragen ansprechbar ist. Auf praktische Handarbeiten im Metallbereich, in der Schreinerei, Druckerei oder Buchbinderei müssen die 700 Varius-beschäftigen derzeit verzichten. Sofern Liefertermine nicht auch verschoben werden mussten, weil das Virus eben auch die Besteller lahmgelegt hat, versuchen die 180 Betreuerinnen und Betreuer die Aufträge in den Werkstätten jetzt abzuarbeiten. Birgit Krahwinkel sagt: „Wir möchten jetzt in der Corona-krise natürlich nicht unsere Auftraggeber verlieren, sondern möglichst an uns binden.“
Die Zeit nach dem Betriebsstillstand, das Hochfahren, wird obendrein zu einer ganz eigenen Herausforderung werden. Die allermeisten Varius-mitarbeitenden werden von ihren Wohngruppen oder aus dem Elternhaus mit Bussen zur Arbeit gefahren und nach Feierabend wieder nach Hause gebracht. Wie in den wendigen Neunsitzern der geforderte Abstand gehalten werden soll, ist derzeit noch nicht geklärt. Die Hygiene am Arbeitsplatz wurde schon bisher großgeschrieben. Hier machen sich die Verantwortlichen aus der Geschäftsleitung vergleichsweise weniger Sorgen.
„Ich hoffe, dass es bald wieder losgehen kann“, sagt Norbert Kaumanns in der Schreinerei in Hemmerden. Er spricht mit diesen Worten für alle, die bei Varius ihren Arbeits- und Lebensmittelpunkt gefunden haben.