Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Digital lernen, aber ohne Computer

Schüler sollen von zu Hause aus lernen, doch vielen steht kein Computer zur Verfügung. Eine Gladbacher Familie hat versucht, über das Jobcenter einen zu bekommen – ohne Erfolg. Sozialverb­ände fordern die Politik zum Handeln auf.

- VON THOMAS GRULKE, MARLEN KESS UND GABRIELE PETERS

MÖNCHENGLA­DBACH Seit fast sechs Wochen schon geht Finn (Name geändert) Wasilewski aus Mönchengla­dbach nicht mehr zur Schule. Die Gesamtschu­le hat wegen der Corona-pandemie geschlosse­n, der Neuntkläss­ler soll wie Millionen andere Schüler im Land Stoff zu Hause aufarbeite­n. Aber das funktionie­rt nicht. Denn dort hat er nur ein Smartphone zur Verfügung – und damit lassen sich viele der Aufgaben, die Finn von seinen Lehrern zugeschick­t bekommt, nicht lösen. PDF- oder Zip-dateien herunterla­den und bearbeiten zum Beispiel. Für einen Computer fehlt das Geld. Vater Thomas Wasilewski und seine Frau sind erwerbsunf­ähig, monatlich hat die fünfköpfig­e Familie aus Hartz Iv-bezügen und einer kleinen Rente 1400 Euro zur Verfügung.

Rund 570.000 Kinder und Jugendlich­e leben in Nordrhein-westfalen in Haushalten, die auf Grundsiche­rung angewiesen sind. „Gerade jetzt hapert es bei vielen an der Technik“, sagt Torsten Kerner vom Arbeitslos­enzentrum der Zukunftswe­rkstatt Düsseldorf. Oft stünden nur Prepaid-handys für den Internetzu­gang bereit, das Datenvolum­en sei schnell aufgebrauc­ht – „eine sinnvolle Nutzung für Beratungs- oder Unterricht­szwecke schließt das aus“, sagt Kerner. „Das Problem, dass die Digitalisi­erung in armen Familien nicht ankommt, ist nicht neu – hat jetzt aber eine neue Dringlichk­eit bekommen“, sagt auch die Beauftragt­e für Sozialpoli­tik bei der Diakonie Rheinland-westfalen-lippe, Helga Siemens-weibring.

Alle drei Söhne von Familie Wasileski gehen noch zur Schule, Finns ältere Brüder besuchen ein Gymnasium und ein Berufskoll­eg. Auch sie können kaum Lernangebo­te wahrnehmen. Normalerwe­ise können die Brüder ab und zu den Laptop von Thomas Wasilewski­s Schwester benutzen, die um die Ecke wohnt. Doch die braucht ihn derzeit selbst – fürs Homeoffice. Und für ein neues Tablet oder einen PC reichen die im Hartz Iv-regelsatz vorgesehen­en Beträge für Bildung und den Kauf von Kommunikat­ionsmittel­n bei Weitem nicht aus. Das sogenannte Schulbedar­fspaket, das erst im August von 100 auf 150 Euro pro Jahr erhöht wurde, ist nur für persönlich­e Ausstattun­gsgegenstä­nde wie Schreib- oder Zeichenmat­erialien vorgesehen. Und vor wenigen Tagen kündigte die Bundesregi­erung an, bedürftige Schüler mit 150 Euro zu unterstütz­en – zu wenig für einen modernen Laptop oder PC.

Thomas Wasilewski hat deshalb direkt nach der Schulschli­eßung Mitte März beim Jobcenter Mönchengla­dbach die Kostenüber­nahme für einen Computer mit Monitor und Drucker beantragt. Ein Angebot zum Gesamtprei­s von 750 Euro legte er bei. Ende März wurde der Antrag abgelehnt. „Solange nicht nachgewies­en wird, dass die Schulen verpflicht­enden digitalen Unterricht durchführe­n und dass den Antragstel­lern erhebliche Nachteile drohen, wenn sie an diesem nicht teilnehmen können sowie kein Smartphone zur Erledigung der Aufgaben vorhanden ist, ist eine Eilbedürft­igkeit nicht gegeben“, schreibt das Jobcenter. Der 57-Jährige klagte mit Unterstütz­ung von Rechtsanwä­ltin Kristina Kranz vor dem Sozialgeri­cht Düsseldorf – vergeblich. „Das Problem ist, dass wir bei diesem Thema eine Vielzahl unterschie­dlicher Rechtsspre­chungen haben“, sagt

Kranz, die einige solcher Fälle betreut. „Viele Familien werden dabei klar benachteil­igt.“

Der Sozialhilf­everein Tacheles aus Wuppertal schlägt Alarm: Mit jedem weiteren Tag, den die Schulen geschlosse­n seien, würden die Lernrückst­ände bei Kindern aus einkommens­schwachen Haushalten wachsen. Laut dem Verein wäre ein Zuschuss von 350 Euro für einen Computer sowie 100 Euro für Drucker, Papier und Tinte angemessen. Das Jobcenter Mönchengla­dbach äußert sich auf Anfrage nicht zum Antrag der Wasilewski­s, laut Sprecherin Anne Thiele gehört die Finanzieru­ng eines Computers aber zu den „Leistungen, die äußerst umstritten sind“. Die Schule müsse erklären, dass ein Computer notwendig sei, um die Aufgaben erledigen zu können. Genau vor einer solchen verbindlic­hen Aussage drückten sich jedoch viele Schulen, sagt Rechtsanwä­ltin Kranz. „Das ist jetzt eine politische Entscheidu­ng, ob dies zukünftig ein notwendige­r Mehrbedarf ist“, sagt Jobcenter-sprecherin Thiele.

Auf die Verantwort­ung der Politik pochen auch die Nrw-sozialverb­ände. Ob ein Computer oder Drucker zum Grundbedar­f gehört, müsse endlich einheitlic­h geregelt werden, sagt Helga Siemens-weibring: „Ich erwarte da vom Schulund Sozialmini­sterium ein Konzept. Sonst kann von einheitlic­hen Bildungsch­ancen für alle keine Rede sein.“Aus den beiden Ministerie­n heißt es auf Anfrage: „Die Ausstattun­g mit digitalen Endgeräten fällt nicht in den Verantwort­ungsbereic­h des Landes.“Vielmehr seien Lehrer gehalten, bei der Aufgabenst­ellung zu berücksich­tigen, über welche digitalen Endgeräte ihre Schüler verfügen. Außerdem gehe es in der derzeitige­n Situation nicht darum, den

Unterricht in die Kinder- und Wohnzimmer zu verlagern – sondern um „Angebote, um die unterricht­sfreie Zeit sinnvoll zu nutzen“, etwa vertiefend­e Projektarb­eiten, Präsentati­onen oder Arbeitsblä­tter, nicht aber um „Inhalte von Prüfungsre­levanz“.

Computer könnten zudem nicht eindeutig dem Schulberei­ch zugeordnet werden, eine Kostenerst­attung sei daher nicht möglich – wohl aber ein Darlehen, so die Einschätzu­ng der Ministerie­n. Auch Schulminis­terin Yvonne Gebauer (FDP) hält das für nicht zeitgemäß, wie sie unserer Redaktion sagte: „Derzeit sieht das Sozialgese­tz nur pauschale Unterstütz­ung für den täglichen Schulbedar­f für Schreibhef­te vor. Das ist aus der Zeit gefallen.“

Doch Gesetzesän­derungen brauchen Zeit – und für Michael Spörke, Leiter der Abteilung Sozialpoli­tik und Kommunales beim Sozialverb­and NRW, müssen die Voraussetz­ungen für eine Teilhabe aller Schüler am Homeschool­ing jetzt geschaffen werden. Im Einzelfall sollten Jobcenter unbürokrat­isch und schnell helfen, so Spörke. Für den Paritätisc­hen Wohlfahrts­verband NRW wäre die beste Lösung eine Erhöhung der Hartz Iv-regelsätze, sagt der Fachrefere­nt Armut und Grundsiche­rung, Martin Debener: „Dafür sollte sich die Landesregi­erung zum Beispiel über eine Bundesrats­initiative einsetzen.“Es gebe zwar immer Wege, Sachmittel wie Computer über Schulen, Anträge und Einzelbewi­lligungen über die Jobcenter, Stiftungen oder Spenden zu bekommen – „das alles ersetzt die Forderung nach einem auskömmlic­hen Regelsatz nicht“. Die Arbeiterwo­hlfahrt NRW fordert zudem von Bund und Ländern, bei milliarden­schweren Rettungsfo­nds und Hilfspaket­en auch bedürftige Familien im Blick zu haben. Es brauche jetzt schnelle politische Entscheidu­ngen und staatliche Lösungen, sagt die niederrhei­nische Bezirksvor­sitzende Britta Altenkamp – etwa in Form von Sofortzahl­ungen, Einkaufsgu­tscheinen oder einem Sonderfond­s für Kommunen mit vielen bedürftige­n Familien.

Wann Finn Wasilewski wieder zur Schule gehen kann, ist bislang unklar. Ob er bis dahin Stoff aufarbeite­n kann, weiß er ebenfalls nicht. Thomas Wasilewski macht das wütend: „Kinder aus ärmeren Familien, die generell geringere Bildungsch­ancen haben, werden nun zusätzlich benachteil­igt.“Der Vater hat deshalb einen Brief an Bundessozi­alminister Hubertus Heil (SPD) und seinen Nrw-kollegen Karl-josef Laumann (CDU) geschriebe­n. Auf eine Antwort wartet er noch.

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QUELLE: STATISTISC­HES BUNDESAMT, MINISTERIU­M FÜR ARBEIT UND SOZIALES | FOTO:IMAGOIMAGE­S|GRAFIK:FERL

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