Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss
Digital lernen, aber ohne Computer
Schüler sollen von zu Hause aus lernen, doch vielen steht kein Computer zur Verfügung. Eine Gladbacher Familie hat versucht, über das Jobcenter einen zu bekommen – ohne Erfolg. Sozialverbände fordern die Politik zum Handeln auf.
MÖNCHENGLADBACH Seit fast sechs Wochen schon geht Finn (Name geändert) Wasilewski aus Mönchengladbach nicht mehr zur Schule. Die Gesamtschule hat wegen der Corona-pandemie geschlossen, der Neuntklässler soll wie Millionen andere Schüler im Land Stoff zu Hause aufarbeiten. Aber das funktioniert nicht. Denn dort hat er nur ein Smartphone zur Verfügung – und damit lassen sich viele der Aufgaben, die Finn von seinen Lehrern zugeschickt bekommt, nicht lösen. PDF- oder Zip-dateien herunterladen und bearbeiten zum Beispiel. Für einen Computer fehlt das Geld. Vater Thomas Wasilewski und seine Frau sind erwerbsunfähig, monatlich hat die fünfköpfige Familie aus Hartz Iv-bezügen und einer kleinen Rente 1400 Euro zur Verfügung.
Rund 570.000 Kinder und Jugendliche leben in Nordrhein-westfalen in Haushalten, die auf Grundsicherung angewiesen sind. „Gerade jetzt hapert es bei vielen an der Technik“, sagt Torsten Kerner vom Arbeitslosenzentrum der Zukunftswerkstatt Düsseldorf. Oft stünden nur Prepaid-handys für den Internetzugang bereit, das Datenvolumen sei schnell aufgebraucht – „eine sinnvolle Nutzung für Beratungs- oder Unterrichtszwecke schließt das aus“, sagt Kerner. „Das Problem, dass die Digitalisierung in armen Familien nicht ankommt, ist nicht neu – hat jetzt aber eine neue Dringlichkeit bekommen“, sagt auch die Beauftragte für Sozialpolitik bei der Diakonie Rheinland-westfalen-lippe, Helga Siemens-weibring.
Alle drei Söhne von Familie Wasileski gehen noch zur Schule, Finns ältere Brüder besuchen ein Gymnasium und ein Berufskolleg. Auch sie können kaum Lernangebote wahrnehmen. Normalerweise können die Brüder ab und zu den Laptop von Thomas Wasilewskis Schwester benutzen, die um die Ecke wohnt. Doch die braucht ihn derzeit selbst – fürs Homeoffice. Und für ein neues Tablet oder einen PC reichen die im Hartz Iv-regelsatz vorgesehenen Beträge für Bildung und den Kauf von Kommunikationsmitteln bei Weitem nicht aus. Das sogenannte Schulbedarfspaket, das erst im August von 100 auf 150 Euro pro Jahr erhöht wurde, ist nur für persönliche Ausstattungsgegenstände wie Schreib- oder Zeichenmaterialien vorgesehen. Und vor wenigen Tagen kündigte die Bundesregierung an, bedürftige Schüler mit 150 Euro zu unterstützen – zu wenig für einen modernen Laptop oder PC.
Thomas Wasilewski hat deshalb direkt nach der Schulschließung Mitte März beim Jobcenter Mönchengladbach die Kostenübernahme für einen Computer mit Monitor und Drucker beantragt. Ein Angebot zum Gesamtpreis von 750 Euro legte er bei. Ende März wurde der Antrag abgelehnt. „Solange nicht nachgewiesen wird, dass die Schulen verpflichtenden digitalen Unterricht durchführen und dass den Antragstellern erhebliche Nachteile drohen, wenn sie an diesem nicht teilnehmen können sowie kein Smartphone zur Erledigung der Aufgaben vorhanden ist, ist eine Eilbedürftigkeit nicht gegeben“, schreibt das Jobcenter. Der 57-Jährige klagte mit Unterstützung von Rechtsanwältin Kristina Kranz vor dem Sozialgericht Düsseldorf – vergeblich. „Das Problem ist, dass wir bei diesem Thema eine Vielzahl unterschiedlicher Rechtssprechungen haben“, sagt
Kranz, die einige solcher Fälle betreut. „Viele Familien werden dabei klar benachteiligt.“
Der Sozialhilfeverein Tacheles aus Wuppertal schlägt Alarm: Mit jedem weiteren Tag, den die Schulen geschlossen seien, würden die Lernrückstände bei Kindern aus einkommensschwachen Haushalten wachsen. Laut dem Verein wäre ein Zuschuss von 350 Euro für einen Computer sowie 100 Euro für Drucker, Papier und Tinte angemessen. Das Jobcenter Mönchengladbach äußert sich auf Anfrage nicht zum Antrag der Wasilewskis, laut Sprecherin Anne Thiele gehört die Finanzierung eines Computers aber zu den „Leistungen, die äußerst umstritten sind“. Die Schule müsse erklären, dass ein Computer notwendig sei, um die Aufgaben erledigen zu können. Genau vor einer solchen verbindlichen Aussage drückten sich jedoch viele Schulen, sagt Rechtsanwältin Kranz. „Das ist jetzt eine politische Entscheidung, ob dies zukünftig ein notwendiger Mehrbedarf ist“, sagt Jobcenter-sprecherin Thiele.
Auf die Verantwortung der Politik pochen auch die Nrw-sozialverbände. Ob ein Computer oder Drucker zum Grundbedarf gehört, müsse endlich einheitlich geregelt werden, sagt Helga Siemens-weibring: „Ich erwarte da vom Schulund Sozialministerium ein Konzept. Sonst kann von einheitlichen Bildungschancen für alle keine Rede sein.“Aus den beiden Ministerien heißt es auf Anfrage: „Die Ausstattung mit digitalen Endgeräten fällt nicht in den Verantwortungsbereich des Landes.“Vielmehr seien Lehrer gehalten, bei der Aufgabenstellung zu berücksichtigen, über welche digitalen Endgeräte ihre Schüler verfügen. Außerdem gehe es in der derzeitigen Situation nicht darum, den
Unterricht in die Kinder- und Wohnzimmer zu verlagern – sondern um „Angebote, um die unterrichtsfreie Zeit sinnvoll zu nutzen“, etwa vertiefende Projektarbeiten, Präsentationen oder Arbeitsblätter, nicht aber um „Inhalte von Prüfungsrelevanz“.
Computer könnten zudem nicht eindeutig dem Schulbereich zugeordnet werden, eine Kostenerstattung sei daher nicht möglich – wohl aber ein Darlehen, so die Einschätzung der Ministerien. Auch Schulministerin Yvonne Gebauer (FDP) hält das für nicht zeitgemäß, wie sie unserer Redaktion sagte: „Derzeit sieht das Sozialgesetz nur pauschale Unterstützung für den täglichen Schulbedarf für Schreibhefte vor. Das ist aus der Zeit gefallen.“
Doch Gesetzesänderungen brauchen Zeit – und für Michael Spörke, Leiter der Abteilung Sozialpolitik und Kommunales beim Sozialverband NRW, müssen die Voraussetzungen für eine Teilhabe aller Schüler am Homeschooling jetzt geschaffen werden. Im Einzelfall sollten Jobcenter unbürokratisch und schnell helfen, so Spörke. Für den Paritätischen Wohlfahrtsverband NRW wäre die beste Lösung eine Erhöhung der Hartz Iv-regelsätze, sagt der Fachreferent Armut und Grundsicherung, Martin Debener: „Dafür sollte sich die Landesregierung zum Beispiel über eine Bundesratsinitiative einsetzen.“Es gebe zwar immer Wege, Sachmittel wie Computer über Schulen, Anträge und Einzelbewilligungen über die Jobcenter, Stiftungen oder Spenden zu bekommen – „das alles ersetzt die Forderung nach einem auskömmlichen Regelsatz nicht“. Die Arbeiterwohlfahrt NRW fordert zudem von Bund und Ländern, bei milliardenschweren Rettungsfonds und Hilfspaketen auch bedürftige Familien im Blick zu haben. Es brauche jetzt schnelle politische Entscheidungen und staatliche Lösungen, sagt die niederrheinische Bezirksvorsitzende Britta Altenkamp – etwa in Form von Sofortzahlungen, Einkaufsgutscheinen oder einem Sonderfonds für Kommunen mit vielen bedürftigen Familien.
Wann Finn Wasilewski wieder zur Schule gehen kann, ist bislang unklar. Ob er bis dahin Stoff aufarbeiten kann, weiß er ebenfalls nicht. Thomas Wasilewski macht das wütend: „Kinder aus ärmeren Familien, die generell geringere Bildungschancen haben, werden nun zusätzlich benachteiligt.“Der Vater hat deshalb einen Brief an Bundessozialminister Hubertus Heil (SPD) und seinen Nrw-kollegen Karl-josef Laumann (CDU) geschrieben. Auf eine Antwort wartet er noch.