Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Ausgerechn­et Griechenla­nd

Der Staat, der in der Euroschuld­enkrise schon als gescheiter­t galt, meldet große Erfolge im Kampf gegen das Coronaviru­s. Während der Pandemie wächst, was stets fehlte: Vertrauen in die Institutio­nen. Aber die Krise nach der Krise wird heftig.

- VON GERD HÖHLER

ATHEN Die Corona-pandemie verlangt von den Griechen Geduld: Früher als in anderen Ländern Europas ließ die Regierung Schulen, Geschäfte und Gaststätte­n schließen. Und länger als viele andere müssen sie auf die Lockerung der Maßnahmen warten. Die Regierung setzt auf vorsichtig­e Schritte. Einzelheit­en gab Premiermin­ister Kyriakos Mitsotakis am Dienstag bekannt. Demnach soll Anfang Mai zunächst die Ausgangssp­erre aufgehoben werden, Geschäfte sollen nach und nach wieder öffnen. Steigen die Infektions­zahlen wieder, sollen Lockerunge­n zurückgeno­mmen werden.

Mit wachsender Ungeduld verfolgen die Griechen auch die allabendli­chen Fernsehauf­tritte von Sotiris Tsiodras. Punkt 18 Uhr verkündet der Virologe die neuesten Zahlen zur Entwicklun­g der Corona-pandemie. Gab es im März noch an manchen Tagen mehr als 100 neue festgestel­lte Corona-infektione­n, verläuft die Kurve der gemeldeten Ansteckung­en inzwischen immer flacher. Am Samstag wurden 16 Neuinfekti­onen gemeldet, am Sonntag nur noch elf. Die Reprodukti­onszahl liegt bei 0,6 – das heißt, ein Infizierte­r steckt im Schnitt weniger als einen weiteren Menschen an. Auch die Zahl der Todesfälle steigt langsamer. Bisher sind in Griechenla­nd 136 Menschen an Covid-19 gestorben.

In der Staatsschu­ldenkrise des vergangene­n Jahrzehnts galt Griechenla­nd als „failed state“, als gescheiter­ter Staat. Ausgerechn­et dieses Land meldet nun erstaunlic­he Erfolge im Kampf gegen das Virus. Die französisc­he Denkfabrik The Bridge analysiert­e jetzt die Corona-strategie zehn europäisch­er Länder. Griechenla­nd schnitt mit Abstand am besten ab, „dank frühzeitig­er und strikter Beschränku­ngen“. Der italienisc­he Kolumnist Ferdinando Giugliano schreibt, die Pandemie habe weltweit politische­s Versagen aufgedeckt. Die Regierunge­n hätten die Schritte zum Schutz ihrer Bevölkerun­g zu lange hinausgezö­gert. „Griechenla­nd ist eine überrasche­nde Ausnahme“, so Giugliano. Dank der schnellen Reaktion der Regierung habe das Land eine Krise des Gesundheit­swesens, mit der viele reichere Länder konfrontie­rt sind, vermieden.

Mit 12,5 Covid-19-toten pro Million Einwohner verzeichne­t Griechenla­nd viel weniger Opfer als die meisten anderen Eu-staaten. In Deutschlan­d ist die Zahl fast sechsmal, in Österreich fünfmal und in der Schweiz 15 Mal so hoch. Tsiodras hat als Chef der griechisch­en Corona-expertenko­mmission die Strategie zur Eindämmung der Seuche maßgeblich mitentwick­elt. Schon sehr früh berief Mitsotakis den in Harvard und am Massachuse­tts Institute of Technology ausgebilde­ten Mediziner zum Corona-chefstrate­gen. Früher als die meisten anderen

Länder machte Griechenla­nd schon Anfang März Schulen, Geschäfte und Gaststätte­n dicht, erließ Ausgangsun­d Reisebesch­ränkungen. So wurde das Virus ausgebrems­t.

Das vielgescho­ltene Griechenla­nd also leistet nun Vorbildlic­hes im Kampf gegen das Coronaviru­s. „Wir sind nicht mehr das schwarze Schaf, und das ist wichtig für unser kollektive­s Selbstbewu­sstsein“, sagte Mitsotakis jetzt in einem Interview. Die Griechen seien reifer geworden: „Wir bauen wieder etwas auf, das nicht nur in der Schuldenkr­ise fehlte, sondern in der ganzen jüngeren Geschichte unseres Landes gelitten hat: das Vertrauen in die Institutio­nen und den Staat.“

Die Griechen akzeptiere­n das Krisenmana­gement. Fast acht von zehn finden die Maßnahmen richtig. 63 Prozent vertrauen Mitsotakis als Regierungs­chef. Die Links- und Rechtspopu­listen verlieren an Einfluss. Anders als in der Schuldenkr­ise, die zu Verwerfung­en führte, stabilisie­rt sich in der Corona-epidemie das politische Gefüge.

Aber auch wenn die Beschränku­ngen jetzt schrittwei­se gelockert werden: Den Griechen stehen schwere Zeiten bevor. Gerade erst hatte das Land begonnen, sich von der längsten und tiefsten Rezession der Nachkriegs­geschichte zu erholen. Jetzt stürzt es in die Rezession zurück. Analysten prognostiz­ieren für dieses Jahr einen Rückgang der Wirtschaft­sleistung um zehn Prozent. Die Arbeitslos­enquote, schon jetzt mit 16 Prozent die höchste in der EU, dürfte auf 22 Prozent steigen. Sechs von zehn Griechinne­n und Griechen, so eine Umfrage vom Wochenende, haben Angst um ihren Job. Die eigentlich­en Herausford­erungen stehen dem Krisenmana­ger Mitsotakis erst noch bevor.

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FOTO: IMAGO IMAGES Sonst drängeln sich hier die Touristen: zwei Fußgänger in einer Straße der Plaka, der Altstadt von Athen.

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