Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss
„Drei Millionen Arbeitslose oder mehr“
Clemens Fuest, Chef des Münchner Ifo-instituts für Wirtschaftsforschung, über das Ausmaß der Corona-krise.
BERLIN Die Bundesregierung ist mit ihrer neuen Wachstumsprognose, den sie an diesem Mittwoch vorstellen wird, noch skeptischer als viele Wirtschaftsforscher. Darüber sprachen wir mit Clemens Fuest, dem Chef des Münchner Ifo-instituts.
Die Bundesregierung erwartet einen Rückgang der Wirtschaftsleistung von 6,3 Prozent in diesem Jahr. Ist das eine realistische Größenordnung – oder kann es auch noch schlechter werden? Fuest Die Entwicklung der Wirtschaftsleistung hängt entscheidend davon ab, wie sich die Epidemie entwickelt und welche Maßnahmen die Politik ergreift, um die Öffnung der Wirtschaft mit Gesundheitsschutz vereinbar zu machen. Jede Prognose beruht derzeit auf Annahmen über diese Größen, die nicht vorhersehbar sind. Mit minus 6,3 Prozent in diesem Jahr zu planen, finde ich in Ordnung, aber natürlich kann es auch anders kommen.
Wie stark wird die Zahl der Arbeitslosen bis Ende 2020 steigen? Fuest Das hängt ebenfalls davon ab, wie die Epidemie weiter verläuft, ist also auch unvorhersehbar. Viele Szenarien führen zu einer Arbeitslosenzahl über drei Millionen. Es kann aber auch mehr werden.
Viele Ökonomen gehen davon aus, dass wir das Minus bis Ende 2021 wieder aufgeholt haben. Besteht diese Chance jetzt noch? Fuest Das ist eher optimistisch. Der IWF beispielsweise erwartet, dass die Wirtschaftsleistung 2021 trotz kräftiger Erholung mehr als zwei Prozent unter der des Jahres 2019 liegen wird. Im letzten Quartal 2021 kann dabei durchaus das Niveau des letzten Quartals 2019 erreicht werden. Aber auch das ist nur ein Szenario.
Was sind die Voraussetzungen für eine vollständige Konjunkturerholung bis Ende 2021? Fuest Der Exit-prozess muss dafür eher zügig und ohne Rückschritte verlaufen, und wir brauchen bald eine Impfung oder ein wirksames Medikament für die Behandlung. Nicht nur bei uns, auch im Rest der EU und in den USA müsste die Epidemie überwunden sein.
Hat die Politik den Gesundheitsschutz gegenüber dem wirtschaftlichen Wohlergehen überpriorisiert? Fuest Es ist keineswegs so, dass ein möglichst langer Shutdown gut für den Gesundheitsschutz ist, denn der Shutdown selbst bringt verschiedene Gesundheitsrisiken mit sich, beispielsweise verstärkte psychische Krankheiten. Für die richtige
Abwägung der verschiedenen Risiken gibt es keine objektiven Maßstäbe, außerdem ist hier unter sehr hoher Unsicherheit zu entscheiden. Ich denke nicht, dass man behaupten kann, die Politik hätte irgendetwas überpriorisiert.
Wie muss der Mix aus Maßnahmen aussehen, um die Konjunktur wieder in Schwung zu bringen? Fuest Für die Übergangsphase, in der wir noch stärkere Einschränkungen haben und viele Unternehmen stillgelegt sind, brauchen wir weiter Unterstützung für Beschäftigte und für Unternehmen. Außerdem sollten wir gezielte öffentliche Investitionen umsetzen, zum Beispiel bei der Digitalisierung der öffentlichen Verwaltung. Breitere Steuerentlastungen
und Investitionsanreize sind etwas für die Zeit nach dem Ende der Einschränkungen.
Brauchen wir auch einen steuerlichen 100-Prozent-verlustrücktrag für die Unternehmen? Fuest Wir brauchen dringend einen deutlich erweiterten Verlustrücktrag für die Unternehmen. Das ist keine Steuerentlastung, sondern eine zeitliche Verlagerung von Steuerzahlungen. Die symmetrische Behandlung von Verlusten und Gewinnen ist grundlegend für eine gerechte Besteuerung. Die Unternehmen brauchen aber jetzt Liquidität.
Wie stark wird die Staatsverschuldung ansteigen – um 500 Milliarden oder eher das Doppelte?
Fuest Das weiß derzeit niemand. Prognosen gehen derzeit von einem Anstieg der Staatsschulden in Deutschland um sechs bis sieben Prozent des Bruttoinlandsprodukts aus, das wären etwa 230 Milliarden Euro. Höhere Beträge, die genannt werden, beinhalten staatliche Kreditgarantien, das ist etwas anderes als Staatsverschuldung.
Wer bezahlt die staatlichen Maßnahmen zur Abfederung der Krise? Fuest Alle Bürger. Es wird künftig entweder höhere Steuern oder geringere staatliche Leistungen geben. Vermutlich beides. Aber ein Verzicht auf Maßnahmen zur Krisenbekämpfung wäre für die Bürger letztlich noch teurer, weil die Krise tiefer ausfallen würde.
Bis zu welchem Punkt können wir uns diese Maßnahmen leisten? Gibt es da eine Grenze? Fuest Es gibt keine feste Grenze. Die Grenze der Staatsverschuldung liegt dort, wo die Gläubiger das Vertrauen verlieren, dass die Schulden bedient werden können. Bei niedrigen Zinsen und ohne attraktive Alternativen kann man die Staatsverschuldung sicherlich über 90 Prozent Schuldenquote hinaus ausdehnen. Japan ist dafür ein Beispiel.
Wie bewerten Sie Lockerungen nur für einzelne Branchen? Fuest Das ist sinnvoll, weil Ansteckungsrisiken unterschiedlich sind.
Welche nächsten Lockerungsschritte empfehlen Sie den Ministerpräsidenten und der Bundeskanzlerin? Fuest Ich würde es für klug halten, die Tests auf Infektion möglichst schnell flächendeckend auszudehnen. Das erleichtert das Öffnen wirtschaftlicher Aktivitäten erheblich und schützt die Gesundheit.
ANALYSE Die größte deutsche Fluggesellschaft hofft auf bis zu zehn Milliarden Euro Staatshilfe. SPD, Grüne und Gewerkschaften wollen dann auch Mitsprache des Bundes, die Airline droht mit einer Radikalkur.