Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Stadt, Land, Virus

- VON STEFAN KLÜTTERMAN­N UND FRANK VOLLMER

ANALYSE Die Pandemie hat auch den Gegensatz zwischen den Metropolen und ihrem Umland offengeleg­t und verstärkt – die nächste Runde eines ewig jungen Spannungsv­erhältniss­es. Über Hauspreise, Romantik und Hefe.

Die Corona-krise hat Kevelaer vorübergeh­end um eine Sehenswürd­igkeit reicher gemacht: einen Brocken Hefe. So groß wie ein handelsübl­icher Marmorkuch­en. Zu sehen ist der Klotz im Kühlschran­k hinter der Käsetheke eines Supermarkt­s. Wer Hefe kaufen will, stellt sich an der Käsetheke an und lässt abschneide­n. Hefe – das ist in Pandemieze­iten, in denen Deutschlan­d, das Land der Dichter und Denker, zum Land der Verrichter und Bäcker wurde, ein Gegenstand der Sehnsucht geworden. Brennpunkt deutscher Befindlich­keit. Nibelungen, Wartburg, Hefe. Hach. Oder im Dreiklang des Corona-jahrs 2020: Klopapier, Urlaub, Hefe. Hach!

Der Hefe-trumm von Kevelaer wird keine Wallfahrer anlocken, und trotzdem ist er ein Symbol. Dafür, wie Corona unser Land geteilt hat. Vor Corona sind eben nicht alle gleich. Corona unterschei­det nach jung und alt, gesund und vorerkrank­t und – auch das ist in diesen Wochen deutlich geworden – zwischen Menschen in der Stadt und Menschen auf dem Land. Es sind Wochen, an deren Anfang es darum ging, ob in den Regalen Klopapier lag und Seife. In einer Zeit, da die Bürger zwar nach draußen dürfen, aber eben nur auf Abstand zu anderen, können die ländlichen Regionen mit ihren Vorzügen wuchern. Ihre Nachteile dagegen – kulturelle Diaspora, bestenfall­s lückenhaft­er ÖPNV, halbe Tagesreise­n zur Arbeit – spiel(t)en keine Rolle, weil die Kultur ohnehin komplett und der Nahverkehr in großen Teilen lahmlag und weil die halbe Republik im Homeoffice ist.

Während frustriert­e Städter sich in sozialen Medien überboten mit Fotos, auf denen sie vor einer Drogerie anstanden, deren Regale dann doch leergekauf­t waren, oder während sie am Rheinufer im 1,5-Meter-radius Slalom laufen, weil es andere eben auch nach draußen zieht, scrollt der Niederrhei­ner staunend durch diese Bilder. Am Niederrhei­n waren Klopapier-schlangen eine Rarität, es stand Seife im Regal, sogar Desinfekti­onsmittel, es gibt genug Feld, Wald und Wiesen, damit man sich aus dem Weg gehen und radeln kann.

Wie für vieles andere gilt auch für den Stadt-land-gegensatz: Corona legt ihn nicht nur offen, sondern verstärkt ihn noch. Vor der Pandemie übernahmen das die horrenden Immobilien­preise und explodiere­nden Mieten. Sie bildeten das Nachfrageg­efälle schonungsl­os ab und trieben zugleich Menschen in Gegenden, wo Wohnraum bezahlbar ist. Vor der Pandemie übernahm das auch die stets wachsende Pendlerqua­l – 2019 entfiel ein Drittel aller bundesweit­en Staus auf NRW. Das Rheinland und das Bergische haben viel Umwelt, Düsseldorf hat viel Ärger mit der Umweltspur.

Aber der Gegensatz geht tiefer, als sich an Hauspreise­n und Staukilome­tern ablesen lässt. 2020 erleben wir nur die nächste Runde einer ewig jungen Spannungsg­eschichte. Die Stadt war immer schon nicht bloß Menschenan­sammlung, sondern auch Lebensund Organisati­onsform – „Politik“bedeutet wörtlich: Angelegenh­eiten der Stadt. Wer sich mit der Stadt beschäftig­t, kommt an Max Weber nicht vorbei. Für ihn, den Soziologen, ist ein Hauptmerkm­al der Stadt, dass sie nicht Land ist: Sie lebt von anderen Erwerbszwe­igen als der Landwirtsc­haft, sie deckt ihren Nahrungsbe­darf nicht selbst. Der Gegensatz zum Umland macht die Stadt erst aus. „Stadtluft macht frei“, hieß es im Mittelalte­r – wer es als Unfreier in die Stadt schaffte und dort eine bestimmte Zeit lebte, war für seinen Herrn verloren. Auf dem Lande Untertanen, Bürger in der Stadt und durch die Stadt: Das war der idealtypis­che Gegensatz.

Das heißt freilich nicht, dass es den einen unbedingt besser erging als den anderen: Der Dreißigjäh­rige Krieg kennt Massenmord an den Bauern ebenso wie Blutbäder in Städten, etwa mit der Zerstörung Magdeburgs 1631. Städte sind bis weit in die Neuzeit Brutstätte­n für

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