Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss
Stadt, Land, Virus
ANALYSE Die Pandemie hat auch den Gegensatz zwischen den Metropolen und ihrem Umland offengelegt und verstärkt – die nächste Runde eines ewig jungen Spannungsverhältnisses. Über Hauspreise, Romantik und Hefe.
Die Corona-krise hat Kevelaer vorübergehend um eine Sehenswürdigkeit reicher gemacht: einen Brocken Hefe. So groß wie ein handelsüblicher Marmorkuchen. Zu sehen ist der Klotz im Kühlschrank hinter der Käsetheke eines Supermarkts. Wer Hefe kaufen will, stellt sich an der Käsetheke an und lässt abschneiden. Hefe – das ist in Pandemiezeiten, in denen Deutschland, das Land der Dichter und Denker, zum Land der Verrichter und Bäcker wurde, ein Gegenstand der Sehnsucht geworden. Brennpunkt deutscher Befindlichkeit. Nibelungen, Wartburg, Hefe. Hach. Oder im Dreiklang des Corona-jahrs 2020: Klopapier, Urlaub, Hefe. Hach!
Der Hefe-trumm von Kevelaer wird keine Wallfahrer anlocken, und trotzdem ist er ein Symbol. Dafür, wie Corona unser Land geteilt hat. Vor Corona sind eben nicht alle gleich. Corona unterscheidet nach jung und alt, gesund und vorerkrankt und – auch das ist in diesen Wochen deutlich geworden – zwischen Menschen in der Stadt und Menschen auf dem Land. Es sind Wochen, an deren Anfang es darum ging, ob in den Regalen Klopapier lag und Seife. In einer Zeit, da die Bürger zwar nach draußen dürfen, aber eben nur auf Abstand zu anderen, können die ländlichen Regionen mit ihren Vorzügen wuchern. Ihre Nachteile dagegen – kulturelle Diaspora, bestenfalls lückenhafter ÖPNV, halbe Tagesreisen zur Arbeit – spiel(t)en keine Rolle, weil die Kultur ohnehin komplett und der Nahverkehr in großen Teilen lahmlag und weil die halbe Republik im Homeoffice ist.
Während frustrierte Städter sich in sozialen Medien überboten mit Fotos, auf denen sie vor einer Drogerie anstanden, deren Regale dann doch leergekauft waren, oder während sie am Rheinufer im 1,5-Meter-radius Slalom laufen, weil es andere eben auch nach draußen zieht, scrollt der Niederrheiner staunend durch diese Bilder. Am Niederrhein waren Klopapier-schlangen eine Rarität, es stand Seife im Regal, sogar Desinfektionsmittel, es gibt genug Feld, Wald und Wiesen, damit man sich aus dem Weg gehen und radeln kann.
Wie für vieles andere gilt auch für den Stadt-land-gegensatz: Corona legt ihn nicht nur offen, sondern verstärkt ihn noch. Vor der Pandemie übernahmen das die horrenden Immobilienpreise und explodierenden Mieten. Sie bildeten das Nachfragegefälle schonungslos ab und trieben zugleich Menschen in Gegenden, wo Wohnraum bezahlbar ist. Vor der Pandemie übernahm das auch die stets wachsende Pendlerqual – 2019 entfiel ein Drittel aller bundesweiten Staus auf NRW. Das Rheinland und das Bergische haben viel Umwelt, Düsseldorf hat viel Ärger mit der Umweltspur.
Aber der Gegensatz geht tiefer, als sich an Hauspreisen und Staukilometern ablesen lässt. 2020 erleben wir nur die nächste Runde einer ewig jungen Spannungsgeschichte. Die Stadt war immer schon nicht bloß Menschenansammlung, sondern auch Lebensund Organisationsform – „Politik“bedeutet wörtlich: Angelegenheiten der Stadt. Wer sich mit der Stadt beschäftigt, kommt an Max Weber nicht vorbei. Für ihn, den Soziologen, ist ein Hauptmerkmal der Stadt, dass sie nicht Land ist: Sie lebt von anderen Erwerbszweigen als der Landwirtschaft, sie deckt ihren Nahrungsbedarf nicht selbst. Der Gegensatz zum Umland macht die Stadt erst aus. „Stadtluft macht frei“, hieß es im Mittelalter – wer es als Unfreier in die Stadt schaffte und dort eine bestimmte Zeit lebte, war für seinen Herrn verloren. Auf dem Lande Untertanen, Bürger in der Stadt und durch die Stadt: Das war der idealtypische Gegensatz.
Das heißt freilich nicht, dass es den einen unbedingt besser erging als den anderen: Der Dreißigjährige Krieg kennt Massenmord an den Bauern ebenso wie Blutbäder in Städten, etwa mit der Zerstörung Magdeburgs 1631. Städte sind bis weit in die Neuzeit Brutstätten für