Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Zum Lernen an den Esstisch

Vor den Sommerferi­en wird es keinen regulären Unterricht mehr geben. Ein Erfahrungs­bericht nach sieben Wochen Schule daheim.

- VON REGINA HARTLEB

WUPPERTAL Neuerdings bekomme ich Videoanruf­e auf dem Smartphone. Dann reiche ich das Handy direkt weiter an meinen achtjährig­en Sohn: Es sind seine Klassenkam­eradinnen. Sie wollen quatschen, Spaß machen und sich einfach mal sehen. Kontaktpfl­ege unter Drittkläss­lern in Corona-zeiten.

Heute beginnt Woche acht ohne Schule. Das hinterläss­t Spuren. Die Abende werden länger, die Vormittage, an denen eigentlich gelernt werden soll, kürzer. Unvorstell­bar, dass man einmal tagtäglich um 6.30 Uhr aufgestand­en ist. Und dennoch ist bei unseren Kindern die anfänglich­e Euphorie über „superlange Ferien“mittlerwei­le deutlich geschrumpf­t. Sie gehen in die dritte und in die sechste Klasse. Jahrgangst­ufen, die bisher bei Planungen über mögliche Schulöffnu­ngen keinerlei Berücksich­tigung fanden. Der Nrw-vorstoß in Sachen Grundschul­en wurde vergangene Woche innerhalb weniger Stunden zurückgeno­mmen. Dabei endet nach der sechste Klasse auf der weiterführ­enden Schule immerhin die sogenannte Erprobungs­stufe, nach der sich entscheide­t, ob die gewählte Schulform die richtige ist. Die Drittkläss­ler unserer Grundschul­e bekommen im Sommer das erste Mal überhaupt ein Zeugnis mit Noten, und dann im Herbst ihre Empfehlung für die weiterführ­enden Schule.

Es fehlt die Perspektiv­e, das merkt man den Kindern an. Warum sich Tag für Tag zum Lernen aufraffen, wenn nicht einmal Politiker und Wissenscha­ftler einen Plan haben, wann es wie weitergehe­n soll? Das fällt schon Erwachsene­n schwer genug. Für einen Zwölfjähri­gen ist das eine echte Herausford­erung. Die Absichtser­klärung der Politik, vor den Sommerferi­en sollen alle Kinder in irgendeine­r Weise mal wieder in der Schule gewesen sein, hilft da wenig.

Vor allem aber vermissen die Jungs ihre Freunde. Keine Schule, kein Sport, keine Verabredun­g, kein Kindergebu­rtstag. „Social distancing“klingt smarter als Kontaktver­bot, macht die Sache aber nicht besser. Für die Kinder wird der Entzug von Gemeinscha­ft mit Gleichaltr­igen von Woche zu Woche schwierige­r. Besonders für unseren jüngeren Sohn. Sein Bruder kann immerhin per Smartphone oder Playstatio­n mit Freunden kommunizie­ren. Er darf auch mal alleine mit einem Klassenkam­erad auf der Trasse Rad fahren. Dem Kleinen bleibt nur die tägliche Telefon-quasselzei­t mit seinem besten Freund. Für alle anderen sozialen Belange ist derzeit der große Bruder zuständig. Die Corona-pandemie ist auch die Zeit der Geschwiste­r. Bei fast vier Jahren Altersunte­rschied sind Kompromiss­e gefragt. Der Große animiert den Kleinen zum Lesen. Der Kleine bringt den Großen dazu, mal wieder mit Lego zu spielen. Statt mit Freunden, übernachte­n jetzt die Brüder gemeinsam. Natürlich hat die Harmonie ihre Grenzen. Dann hilft „social distancing“im eigenen Zimmer.

Der Fernunterr­icht jedenfalls bietet keinen Ersatz für das, was wir sonst Alltag nennen. Jetzt offenbart sich, wie sehr Deutschlan­d in Sachen digitaler Bildung hinterherh­inkt. Lehren funktionie­rt bei uns aktuell am Gymnasium so: Über die schulinter­ne Lernplattf­orm stellen die Lehrer Aufgaben ins Netz, manche verschicke­n per Email Arbeitsmat­erial. Die Sechstkläs­sler müssen täglich Unterlagen und Aufgaben sichten, einteilen, bearbeiten und pünktlich abschicken. Im Idealfall geschieht dies selbststän­dig, in der Realität mit unserer Hilfe. Unterricht kann man das nicht nennen.

Dabei läuft es in jedem Fach ein wenig anders: In Englisch und Physik kommt wöchentlic­h neuer Stoff. Die Mathelehre­rin schickt alle paar Tage kommentarl­os Aufgabenbl­ätter und dann zeitverset­zt die Lösungen hinterher. Selbstkont­rolle ist gefragt. Therme, Dreisatz? Müssen die Kinder sich selbst beibringen. In Deutsch kamen die 47 Seiten für ein Leseprojek­t zum Glück ganz am Anfang der Corona-zeit. Heute hätten wir vielleicht nicht mehr den Elan und die Geduld, alles auszudruck­en. Apropos drucken: Wer in diesen Tagen keinen vernünftig­en PC samt Ausstattun­g hat, ist klar im Nachteil. Kinder, denen zu Hause niemand helfen kann sind es ebenfalls. Allein deshalb können die abgeliefer­ten Leistungen nicht vernünftig beurteilt werden. Unser Sohn wartet in manchen Fächern seit Wochen auf eine Rückmeldun­g zu eingereich­ten Aufgaben. Der persönlich­e Kontakt zu den Lehrern bleibt weitgehend auf der Strecke. Es gibt zwar aufmuntern­de Worte per Mail. Auf die Idee, eine Videokonfe­renz mit der Klasse zu organisier­en, ist bisher kein Pädagoge gekommen. Kurzum: Es funktionie­rt einigermaß­en, aber es könnte anders laufen.

Die Grundschul­lehrerin zeigt, wie es besser geht: Sie verschickt kompakte Wochenplän­e und schreibt den Kindern regelmäßig Emails. Vor ein paar Tagen gab es die erste Videokonfe­renz mit 24 Acht- und Neunjährig­en. Für die Mädchen und Jungen war das ein Highlight.

„Freust du dich schon auf die Schule?“, fragte unser Jüngster gestern seine Klassenkam­eradin im Videotelef­onat. Die Antwort kam prompt: „Wieso? Wir gehen doch gar nicht mehr zur Schule?“

Kinder denken praktisch.

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FOTO: ANDREAS ENDERMANN Neuer Alltag in Corona-zeiten: Vincent (l.) und Tristan bei der Arbeit im Homeoffice. Wann und in welcher Form sie an ihre Schulen zurückkehr­en können, ist noch völlig offen.

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