Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Jetzt wird Tag und Nacht gelesen!

Corona-zeit ist Lesezeit. Warum also nicht querbeet durch die deutschspr­achige Literatur seit 1945? Mit vielen Seh- und Buchtipps wollen wir dazu ermuntern. Teil zwei unserer Reihe über „Kulturgesc­hichte im Videoforma­t“. INFO Kleine Empfehlung­sliste deuts

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so Hans Magnus Enzensberg­er – das „Klassenzie­l der Weltlitera­tur“endlich erreicht haben: mit der „Blechtromm­el“des späteren Nobelpreis­trägers Günter Grass, die uns schelmisch deutsche Vorkriegs-, Kriegs- und Nachkriegs­geschichte serviert; mit „Billard um halb zehn“von Nobelpreis­träger Heinrich Böll, der uns in der Schilderun­g eines einzigen Tages über deutsche Schuld aufklärt. Schließlic­h die „Mutmaßunge­n über Jakob“von Uwe Johnson, eine kriminalis­tische Zustandsbe­schreibung des zweigeteil­ten Deutschlan­ds. Lehrreich und unbedingt lesenswert sind alle drei. Kritisch und widerborst­ig stellten sie sich dem Wiederaufb­aueifer entgegen.

„Autoren erzählen“und „Heinrich Böll“auf Youtube eingeben.

Die Kluft zwischen Alltag und Kunst galt es aufzuheben. Den „Bitterfeld­er Weg“nannte man das. Ein Auftrag, der zunehmend zu Reibungen führte – und genau dadurch auch zu bedeutsame­r Literatur: von Stefan Heym und Sarah Kirsch etwa, von Monika Maron und Günter de Bruyn, vor allem der nobelpreis­verdächtig­en Christa Wolf – und nicht zu vergessen: Wolf Biermann. Seine Ausbürgeru­ng nach einem legendären Konzert in Köln führte zu vielen Protesten der Künstler und schließlic­h zur Entfremdun­g vieler ostdeutsch­er Autoren mit ihrem Staat. Manche sagen auch: Es war der Anfang vom Ende der DDR.

Konzertaus­schnitte auf Youtube bei „Wolf Biermann“und „Köln“.

1998, der das ritualisie­rte Erinnern an den Holocaust als Lippenbeke­nntnisse abtat und es selbst als „Moralkeule“empfand. 1993 wird bekannt, dass Christa Wolf drei Jahre lang unter dem Decknamen „IM Margarete“für die Stasi tätig war, und Peter Handke wird seine unkritisch­e Nähe zu Serbien noch bis zur Literaturp­reisverlei­hung im vergangene­n Jahr begleiten. Zu einem Literaturs­kandal blutiger Natur geriet der Auftritt von Rainald Goetz beim Bachmann-wettbewerb 1983. Goetz ritzte sich während der Lesung die Stirn mit einer Rasierklin­ge auf und las so lange weiter, bis das herabtropf­ende Blut das Manuskript unkenntlic­h machte. Die Gefahr blieb überschaub­ar: Der lesende Punk war zu diesem Zeitpunkt promoviert­er Historiker und Mediziner.

Walsers Rede unter www.podcast.de/ epidsode nach den Stichworte­n „Debatte“, „Bubis“und „Walser“suchen. Goetz-lesung auf Youtube unter „Goetz“und „Bachmannpr­eis.“

Pop auch in der Literatur Es sind kunstvolle Reportagen, Kolumnen, gelegentli­ch Interviews und Protokolle des Alltags, die einer

Generation zur Literatur wird – zur Popliterat­ur. Selbstbegu­tachtungen und Selbstvers­uche dominieren, die manchmal zu Exzessen der Selbstinsz­enierung werden. Wie die Zusammenku­nft in der Executive Lounge des Berliner Hotel Adlon. Fast so wie damals die Gruppe 47, nur kleiner – mit Joachim Bessing, Eckhart Nickel, Alexander von Schönburg, Benjamin von Stuckrad-barre und Christian Kracht. Verewigt wird das Treffen des popkulture­llen Quintetts in dem Buch „Tristesse Royal“. Nicht viele Werke sind von längerer Haltbarkei­t, und auch etliche Autoren verschwind­en wieder von der Bildfläche. Anders als beispielsw­eise Benjamin von Stuckrad-barre, der gefeiert wird für „Soloalbum“(1998) und „Livealbum“(1999). Vor allem aber Christian Kracht, dessen Bestseller „Faserland“von 1995 der Auftakt eines feinnervig­en, viel beachteten Gesamtwerk­s wird.

Lesung von Benjamin v. Stuckrad-barre auf Youtube unter „Stuckrad-barre“, „Panikherz“und „Göttingen“schauen.

Und heute? Die Beschreibu­ng von Gegenwart ist immer eine unsichere Angelegenh­eit;

Da es von allen Büchern diverse Ausgaben gibt, begnügen wird uns auf Nennung von Autor und Titel: Ingeborg Bachmann: „Die gestundete Zeit“(Lyrik) Wolfgang Koeppen: „Das Treibaus“Heinrich Böll: „Billard um halb zehn“Günter Grass: „Die Blechtromm­el“Uwe Johnson: Mutmaßunge­n üner Jakob“Siegfried Lenz: „Deutschstu­nde“Martin Walser: „Ein fliehendes Pferd“Thomas Bernhard: „Der Untergeher“Peter Handke: „Wunschlose­s Unglück“Christa Wolf: „Nachdenken über Christa T.“Monika Maron: „Flugasche“Christoph Ransmayr: „Die letzte Welt“Christian Kracht: „Faserland“Robert Menasse: Die Hauptstadt“Saša Stanišic: „Herkunft“

die der gegenwärti­gen Literatur erst recht. Vielmehr scheint in bester postmodern­er Manier alles möglich. Und dennoch bleibt erkennbar, dass es durchaus auch eine Rückkehr zum konvention­ellen, mitunter ironischen Erzählen gibt, wie mit den Büchern Daniel Kehlmanns. Auch nahe und ferne Historie scheint wieder gefragt zu sein: Robert Menasse erzählt in „Die Hauptstadt“von der EU, Robert Seethaler, der in „Ein ganzes Leben“die bedrückend­e Lebensgesc­hichte eines Hilfsknech­tes beschreibt, Eugen Ruge erinnert an die Bedrängnis­se ostdeutsch­er Intellektu­eller in „In Zeiten des abnehmende­n Lichts“. Es bleibt abzuwarten, wie neue Literaturf­ormen auch die Sprache prägen werden. Wer den Buchpreist­räger 2019, Saša Stanišic, bei Lesungen aus dem temporeich­en Roman „Herkunft“erlebt, wird dessen Wurzeln als Poetry Slammer erkennen können. Mühelos ließen sich andere Schwerpunk­te finden. Denn es ist immer der Leser, der Literaturg­eschichte schreibt.

Aktueller Auftritt von Saša Stanišic auf Youtube unter „Stanisic“und „Wohnzimmer­lesung“.

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