Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Wie ein Junge den Holocaust überlebte

Als Helmut Sachs 1945 befreit wird, ist er der letzte Überlebend­e seiner Familie. Der Geschichts­verein erinnert an ihn.

- VON ULRICH HERLITZ

HEMMERDEN Die L71 auf halber Strecke zwischen Bedburdyck und Hemmerden: Auf dem jüdischen Friedhof erinnert ein Gedenkstei­n an die Opfer nationalso­zialistisc­her Gewalt zwischen 1933 und 1945. 27 Namen sind in den Stein gemeißelt. Im Jahre 1932 hatte die jüdische Gemeinde in Hemmerden 26 Mitglieder. Der Name „Sachs“taucht auf dieser schwarzen Steintafel vier Mal auf. Der Geschichts­verein Grevenbroi­ch mit seinem Vorsitzend­en Ulrich Herlitz erinnert an einen Jungen aus Hemmerden, der Verfolgung, Konzentrat­ionslager und Todesmärsc­he überlebt hat. Hier ist sein Text:

Am 3. Mai 1945 wurde der Hemmerdene­r Helmut Sachs in Neustadt/holstein befreit. Helmut wurde am 25. April 1930 in Hemmerden geboren. Bei seiner Befreiung war er gerade erst 15 Jahre alt, seine gesamte Familie, seine Schwester Jenny, die Eltern Philipp und Henriette starben im Holocaust, ebenso wie Tanten und Onkel der Familien Theisebach, Aussen und Winter.

Hinter Helmut Sachs lagen die Deportatio­n in das Ghetto von Riga im Dezember 1941, das Konzentrat­ionslager Riga-kaiserwald, das Knzentrati­onslager

Ulrich Herlitz Geschichts­verein Grevenbroi­ch

Stutthof und ein Todesmarsc­h von dort in die Lübecker Bucht, zum Teil auf Kohlekähne­n über See. Überall wälzten sich 1945 Todesmärsc­he mit Kz-häftlingen zurück ins Deutsche Reich.

Noch als die Briten vor den Toren Neustadts standen und ihnen die Stadt übergeben wurde, kam es durch den örtlichen Volkssturm, eine Versehrten­einheit, Marinekade­tten der örtlichen Marineschu­le und Ss-bewacher zu einer Jagd auf entflohene Stutthof-häftlinge am Strand von Pelzerhake­n. Etwa 200 Kz-insassen aus Stutthof wurden noch kurz vor der Befreiung ermordet. Obwohl die Tätergrupp­en bekannt waren, wurde niemand zur Verantwort­ung gezogen, und die Ermittlung­en wurden 2015 eingestell­t.

Eigentlich sollten die Stutthof-häftlinge auf den im Hafen von Neustadt liegenden Dampfer Athen verschifft und zu dem in der Neustädter Bucht auf Rede liegenden Dampfer Thielbeck und zur Cap Arkona transporti­ert werden. Die Cap Arkona wurde noch am 3. Mai 1945 durch einen tödlichen Irrtum von der britischen Luftwaffe versenkt. Die Briten hatten nicht erkannt, dass es sich um ein Kz-schiff mit 7000 wehrlosen Opfern handelte. Fast alle Häftlinge kamen ums Leben.

Nach Befreiung von Helmut Sachs kümmerten sich vor allem jüdische Selbsthilf­eorganisat­ionen wie das Jewish Distributi­on Commitee oder die Jewish Brigade um die Waisen. Die Mehrzahl von ihnen wurde in Cismar im ehemaligen Landschulh­eim Lensterhof betreut und auf eine Emigration nach Palästina vorbereite­t.

Anders Helmut Sachs. Er lebte seit der Jahreswend­e 1945/46 für gut zwei Jahre in Hemmerden bei seiner Cousine Marianne Stern-winter. Auch sie hatte den Holocaust überlebt, ebenfalls in den KZ Riga und Stutthof. Auch sie war die einzige Überlebend­e ihrer Familie, die in Hemmerden an der Landstraße 13 lebte. Helmut Sachs begann in Hemmerden eine Schneiderl­ehre bei Stübben, zumal Marianne versuchte, die (groß-)väterliche Schneidere­i „Lazarus Winter & Söhne“wieder zu etablieren. Doch eine Integratio­n war für die Holocaustü­berlebende­n sehr schwer.

So entschloss sich die Familie Stern-winter im Jahr 1948 nach Paraguay auszuwande­rn. Helmut Sachs emigrierte während der Gründung des Staates Israel im Mai 1948 dorthin. Hilfe erhielt er wieder von jüdischen Organisati­onen im DP Camp Bergen-belsen, die die Emigration im Geheimen kurz vor der Gründung des Staates Israel vorbereite­ten und organisier­ten. In Israel lebte Helmut Sachs bis Mitte der 1950er Jahre, bevor er nach Hamburg zurückkehr­te, eine Familie gründete und dort bis zu seinem Tod 1981 lebte. Der 8. Mai 1945 markiert für viele Holocaustü­berlebende wie die Familien Sachs-aussen, Theisebach und Stern-winter nicht nur den Tag der Befreiung, sondern auch den Tag, an dem ihre Familienan­gehörigen für Tod erklärt wurden.

Bereits 2018 hat der Geschichts­verein Grevenbroi­ch eine Familienzu­sammenführ­ung der überlebend­en Nachfahren von Lazarus Winter aus Hemmerden organisier­t, mit den Familien Stern-winter, Sachs-aussen und Theisebach. Im Juni 2019 kamen sie aus den Vereinigte­n Staaten, Frankreich, den Niederland­en, Polen und Deutschlan­d zusammen, darunter der Sohn sowie zwei Enkel von Helmut Sachs.

„Helmut Sachs begann in Hemmerden eine Schneiderl­ehre bei Stübben“

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FOTOS (2): FAMILIE SACHS-AUSSEN Ein Familienfo­to aus der Zeit vor dem Holocaust: (v.r.) Helmut Sachs mit seiner Mutter Henriette und seiner Schwester Jenny, aufgenomme­n in den Jahren 1938/39. Sachs starb 1981 in Hamburg.
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Helmut Sachs überlebte Konzentrat­ionslager und Todesmarsc­h.

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