Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss
Landwirte werben Erntehelfer ab
Bauern geraten wegen der Corona-krise immer mehr unter Druck. Obst und Gemüse müssen dringend geerntet werden, aber Saisonkräfte fehlen. So versuchen einige Landwirte, Arbeiter von Nachbarhöfen mit Handgeld zu locken.
DÜSSELDORF Die Zeit drängt: Eisbergsalat und Erdbeeren müssten jetzt vom Feld. Im Juni sind Kirschen und Tomaten reif. Schon zur Spargelsaison benötigten die Landwirte händeringend Erntehelfer. In Deutschland nimmt kein Gemüse so viel Ackerfläche ein wie der Spargel, rund 1600 Betriebe von mehr als 6000 sind darauf spezialisiert. Laut Bundesfachgruppe Gemüsebau macht der Spargel rund ein Sechstel des jährlichen Erlöses von drei Milliarden Euro aus. Und nun stehen die Ernten zahlreicher weiterer Gemüse an – bis in den Herbst.
„Deshalb ist das bisherige Konzept viel zu eng gefasst“, sagt Peter Muß vom Provinzialverband Rheinischer Gemüsebauer. „Wir haben viel zu wenig Erntehelfer, um das ganze Jahr abzudecken.“Je 40.000 Arbeitskräfte hätten im April und Mai laut Landwirtschaftsministerin Julia Klöckner (CDU) nach Deutschland einreisen dürfen. Gekommen sind rund 33.000, wie die Ministerin am Mittwoch bekanntgab. Genaue Zahlen dazu, wie viele Saisonarbeiter auf den Feldern gebraucht werden, gibt es nicht. Laut Provinzialverband geht man von rund 300.000 Saisonarbeitern deutschlandweit aus, in NRW könnten es 80.000 sein. Klöckner dagegen sprach von nur 50.000 Helfern, die in NRW gebraucht würden.
In einem sind sich alle einig: Derzeit sind es zu wenige. Muß kennt die Gründe: „Viele Erntehelfer wollen dieses Jahr nicht kommen, weil sie Angst vor Corona haben. Sie fürchten sich davor zu fliegen und davor, sich hier anzustecken. Manche leben auch selbst in einem Lockdown-gebiet und kommen gar nicht raus.” Das setzt landwirtschaftliche Betriebe enorm unter Druck. „Wir wissen, dass andere Betriebe nachts mit Autos an Höfen auftauchen, den Saisonarbeitern ein Handgeld geben, dann steigen die Helfer mit ihnen ins Auto und sind weg”, sagt Muß. Längst greifen aber nicht mehr nur landwirtschaftliche Betriebe zu solchen Maßnahmen. „Mir wurden drei Erntehelfer durch einen holzwirtschaftlichen Betrieb abgezogen”, sagt Jan Pfaffmann, Landwirt vom Niederrhein, der seinen echten Namen nicht veröffentlicht sehen will. Auch bei 33 Erntehelfern insgesamt mache es sich schon bemerkbar, wenn drei Paar Hände fehlten. „Ich weiß aber, dass es noch häufiger versucht wurde. Günstige Arbeitskräfte
fehlen derzeit einfach in vielen Branchen.” Finanziell ist so ein Fall für die Bauern auch deshalb ein Problem, weil sie die Anreise und die ersten Kosten für die Erntehelfer dann umsonst übernommen haben.
Laut Corona-schutzverordnung müssen Landwirte zusätzlichen Wohnraum schaffen, um die Helfer einzeln unterzubringen. 14 Tage lang müssen die Helfer auf dem Hof in Quarantäne bleiben. In dieser Zeit muss der Landwirt sie versorgen und sowohl in den Wohnanlagen als auch auf den Erntemaschinen müssen Hygienemaßnahmen wie Trenner aus Acrylglas ergriffen werden. Das ist aufwendig und teuer. Pfaffmann hat all das auf seinem Hof umgesetzt. Selbstverständlich ist das aber nicht: „Durch die Corona-auflagen kostet mich ein Erntehelfer rund 300 Euro pro Monat“, sagt Pfaffmann. „Dazu kommt der Flug mit 250 Euro.“
So mancher Landwirt setzt die Auflagen da lieber gar nicht erst um. Das Ard-magazin „Panorama“berichtete bereits im April darüber, dass die Verordnung auf manchen Höfen nicht eingehalten wird. Demnach lebten teils drei Menschen in einem Container. Auch die vielen Infektionen in Schlachthöfen im Kreis Coesfeld werden auf beengte Wohnverhältnisse und fehlende Schutzmaßnahmen zurückgeführt.
„Kontrolliert wird es eben nicht“, sagt Reinhard Steffen, Sprecher für die Industriegewerkschaft Bauen-agrar-umwelt (IG BAU). Dies führe dazu, dass Betriebe, die sich nicht an die Auflagen halten, Lebensmittel billiger anbieten und so den Wettbewerb verzerren. Auch Thomas Hentschel vom Peco-institut für nachhaltige Entwicklung kennt das Problem: „Derzeit holen viele Landwirte erstmal die Wachbetriebe, wenn ein Gewerkschaftler sich nähert.“Von den Gesundheitsämtern gingen ebenfalls kaum Kontrollen aus. Den wichtigsten
Hebel sieht Hentschel aber in Finanzkontrollen. Erst wenn rigoros gegen Schwarzarbeit und Tricksereien beim Lohn angegangen werde, könne sich etwas ändern. „Zumal die Strafen viel zu niedrig sind. Wenn ein Betrieb ein paar hundert Euro Strafe zahlen muss, ist das egal. Der Gewinn ist sehr viel höher.“