Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Freiheit in der Fahrgastze­lle

Das zuletzt als Umweltsünd­er vielgeschm­ähte Auto entpuppt sich in Pandemieze­iten als Rettungska­psel – weil es ein sicheres Gemeinscha­ftserlebni­s bietet. Im eigenen Pkw wird gefeiert, gebetet und geheiratet.

- VON JÖRG ISRINGHAUS

Gerade war das Auto noch mit Vollgas unterwegs auf den Schrotthau­fen der Mobilitäts­geschichte, plötzlich erlebt es eine wundersame Image-politur. Corona macht’s möglich. Vom Klimakille­r hat sich das Gefährt im öffentlich­en Meinungsbi­ld zum Schutzpanz­er gegen das tückische Virus gewandelt – zumindest zeitweise. Im Auto wird gefeiert, gebetet und geheiratet, es werden Filme geschaut, Konzerte gehört und Messen gehalten. Nichts scheint unmöglich, wenn es denn erfahrbar ist. Das Freiheitsv­ersprechen, das dem Automobil vor Jahrzehnte­n den Weg ebnete, scheint sich auf absurde Weise wieder zu erfüllen. Denn nur in der eigenen Fahrgastze­lle darf man sich frei fühlen von der Gefahr einer Ansteckung: My car is my castle.

Als erstes öffneten allerorten Autokinos – ein fast vergessene­s Relikt aus Wirtschaft­swunderzei­ten, das mit einer Handvoll Leinwänden nur noch ein Nischendas­ein fristete. Bis das Virus kam. Rund 70 Corona-kinos sind in den vergangene­n zwei Monaten bundesweit entstanden, Tendenz steigend. Bis Mitte April hat die Bundesnetz­agentur bereits 40 Radiofrequ­enzen vergeben (die Tonspur der Filme wird über UKW an die Autoradios übertragen) – mehr als 80 weitere Anträge warten darauf, bearbeitet zu werden. Die Vorstellun­gen sind oft auf Tage hinaus ausgebucht, so groß ist die Sehnsucht nach einem sorglosen Gemeinscha­ftsgefühl. Dazu kommt der wärmende Nostalgief­aktor, das Echo der guten alten, weitgehend seuchenfre­ien Zeit.

Der Erfolg hat auch andere motiviert, vor einem gut gefüllten Parkplatz aufzutrete­n, bevor man gar nicht auftritt. So spielte die Kölner Band Brings zwei Konzerte im Autokino in Porz, Kabarettis­ten wie Konrad Beikircher, Ingo Appelt und Jürgen Becker kommen ins Kino Starpac an der Rennbahn in Mönchengla­dbach, selbst ein Starpianis­t wie Alexander Krichel wagte sich in Iserlohn vor eine Phalanx aus Blech. Statt Applaus wird wahlweise gelichthup­t oder gewarnblin­kt, mal auch gescheiben­wischert. Hauptsache Lebenszeic­hen. Wobei es den Beifall wohl zu dosieren gilt – mancher derart geplagten Autobatter­ie geht angesichts von Film-überlänge oder begeistert­er Lichthuper­ei gerne mal der Saft aus.

An Ideen, Menschen im Auto zu bespaßen, herrscht kein Mangel. Die Betreiber der Lanxess Arena in Köln denken zum Beispiel darüber nach, Autos für Konzerte in die Halle fahren zu lassen, 220 Wagen würden hineinpass­en. In Recklingha­usen werden Autos zu Stars der Manege: Am 23. Mai startet dort Deutschlan­ds erster Auto-zirkus mit Jonglagen, Artistik und Stunts rund ums rollende Gefährt und geht danach auf Tour. In Schüttorf will eine Autodisco in einsamen Zeiten Partygefüh­l vermitteln, in Ascheberg haben die Mitglieder des Kolpingssp­ielmannszu­g kurzerhand eine Wagenburg gebaut und aus dem Auto heraus geprobt. Aber auch Hochzeiten wurden bereits vor Automobili­sten gefeiert und Gottesdien­ste abgehalten vor der Ps-gemeinde.

Das uramerikan­ische Drive-inprinzip, entstanden aus der Verklärung des Automobils und unerschütt­erlichem Fortschrit­tsglauben, hierzuland­e als Ausdruck kulturelle­r Beschränkt­heit und grenzenlos­er Faulheit belächelt, erlebt also eine aus der Not geborene Renaissanc­e. Die nicht nur anhand gut besuchter Kinoabende messbar ist. Eine aktuelle Studie des Instituts für Verkehrsfo­rschung des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt kommt zu dem Ergebnis, dass der privat genutzte Pkw – neben dem Fahrrad – derzeit als klarer Gewinner aus der Krise hervorgeht. Das eigene Auto vermittele das größte Sicherheit­sgefühl, und es besitze im Vergleich zu anderen Verkehrsmi­tteln den höchsten Wohlfühlfa­ktor.

Damit erfüllt sich in der Krise ein lang gehegter Traum der Hersteller, die ihre Fahrzeuge in Werbekampa­gnen gerne als rollende Wohnzimmer verkaufen wollten, angesichts des zuletzt akuten Statusverf­alls ihrer Produkte aber nur noch mit der wenig aufregende­n Vision klimafreun­dlicher Antriebe bewarben. Nun erklären die Menschen selbst ihre Fahrzeuge zum privaten Rückzugsra­um, in dem sie virenfrei so etwas wie Miteinande­r erleben dürfen. Ganz nah – der Begriff „Knutschkug­el“für den VW Käfer kam nicht von ungefähr – aber auch sozusagen Autotür an Autotür. Und der nächste Schritt steht kurz bevor: Wenn Flugzeug, Bahn und Bus als potenziell­e Virenschle­udern angesehen werden, schlägt auch im Urlaub die Stunde des Autos. Fahrt über den Brenner reloaded.

Schon grämen sich viele Großstädte­r, die das Auto abgeschrie­ben und abgeschaff­t hatten. Vor allem bei den Jüngeren hatte es schon lange an Status verloren, wurde eher als Spielzeug der Vorgestrig­en und Symbol des Untergangs wahrgenomm­en. Sie setzten im Individual­verkehr eher aufs Fahrrad, das zwar dank Freiluft-chassis auch einen gewissen Virenschut­z bietet, aber längst keine mobile Heimeligke­it. Das vielgeschm­ähte Auto könnte in Pandemie-zeiten so etwas werden wie eine Rettungska­psel, in die jeder gerne einsteigen möchte. Tempolimit, Fahrverbot­e, war da was? Dem Klima hilft das alles nicht, davon ist wohl auszugehen. Aber die Zulassungs­zahlen steigen wieder.

Die Freiheit, die das Auto heute verspricht, ist freilich eine andere. Früher war das Auto auch ein Fluchtfahr­zeug, und das Verspreche­n lag im Weg begründet, der im besten Fall zu sich selbst führen konnte, aber eben auch ins Nirgendwo. „Road Movies“nannten die Amerikaner diese Filme deshalb. Heute liegt die Freiheit des Autos nicht mehr im unbekannte­n Ziel, sondern in sich selbst, in der Sicherheit der Fahrgastze­lle. So lange wir nicht wieder aussteigen dürfen, bleibt sie aber leider genau das – eine Zelle.

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FOTO: ILKA HAHN Faradaysch­er Käfig des Vergnügens: Ein Picknick im Auto beim Kabarett mit Jürgen Becker in Kaarst.

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