Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss
Gelegenheit zum Streit
Die Corona-pandemie hat das Leben innerhalb weniger Wochen radikal verändert. Es gibt also viel zu bereden – wir haben Menschen mit völlig unterschiedlicher Meinung und sehr unterschiedlichem Hintergrund miteinander ins Gespräch gebracht.
ist 60 und arbeitet als Dramaturgin in Haan, er ist 22 und Student aus Heidelberg. Auch ihre politischen Ansichten gehen weit auseinander. Alle sieben Fragen haben sie unterschiedlich beantwortet.
Dass beide Diskutanten einander ernst nehmen, wird schon zu Beginn der Unterhaltung klar. Keul findet, dass die Bundesregierung viel zu langsam verstanden hat, wie ernst die Lage eigentlich ist. Großveranstaltungen wie beispielsweise der Fasching in Bayern wurden nicht abgesagt, Urlauber durften weiterhin um die Welt reisen. Er habe sich schon früh eine Maske besorgt, sei mit Desinfektionsmittel in die Uni gefahren. „Viele meiner Kommilitonen fanden das übertrieben und haben mich belächelt“, sagt er.
Obwohl sie mit der Maskenpflicht nicht einverstanden sei, könne sie seinen Standpunkt gut nachvollziehen, sagt Lange. Trotzdem wünsche sie sich ein wenig Nachsicht: „Informationen sind etwas prozesshaftes. Jeden Tag haben wir neue Erkenntnisse, dann überlegen wir und gehen einen Schritt weiter. Das hätte man damals nicht voraussehen können“, sagt sie.
Während Lange sich am meisten Sorgen um die Entsolidarisierung der Gesellschaft macht, stehen für Keul die wirtschaftlichen Folgen der Corona-krise im Mittelpunkt. Eine Neuverschuldung von 156 Milliarden Euro, 300.000 zusätzliche Arbeitslose und zehn Millionen Kurzarbeiter — das seien Auswirkungen, mit denen Deutschland sich noch lange auseinandersetzen müsse. Die 60-jährige Dramaturgin sieht das gelassener: „Auf mich wirkt das weniger bedrohlich, das liegt wahrscheinlich an meinem
Alter. Du denkst, dass deine Generation die nächsten 30 Jahre zahlen muss. Aber auch wir haben hohe Schuldensummen abgetragen, die schwarze Null, das sind auch meine 30 Jahre Berufsleben“, sagt sie. Interessant finde sie, dass die Haltung zur Corona-krise viel damit zu tun habe, wo man im Leben gerade stehe. Dass Alter, Wohnort, Geschlecht und finanzielle Lage maßgeblich dazu beitrügen, wie sich jeder Einzelne positioniere.
„Auch wenn ich komplett anderer Auffassung bin, heißt das nicht, dass ich recht habe. So hundertprozentig sicher können wir uns ja gerade alle nicht sein“, sagt Keul. (Protokoll: Danina Esau)
„Man wird schnell angegriffen und in eine bestimmte Ecke gestellt“Marcel Fischer (42) aus Kulmbach und Andreas Maxbauer (60) aus Düsseldorf reden über „Silo-denken“.
Die prägende Geste im Gespräch zwischen Andreas Maxbauer und Marcel Fischer ist das Nicken. „Es gab einen Grundkonsens“, sagt Marcel Fischer nach dem Gespräch. Eine überraschende Bilanz. Auch Maxbauer und Fischer haben alle Fragen jeweils gegenteilig beantwortet. Doch ihr Treffen per Videoschalte am Sonntagnachmittag beweist: Das heißt nicht, dass aus einem Gespräch ein Streitgespräch werden muss.
Marcel Fischer ist 42 Jahre alt, er wohnt im fränkischen Kulmbach, arbeitet im Online-marketing. Maxbauer, 60 Jahre, wohnt in Düsseldorf. Er arbeitet als Grafiker.
Fischer sagt, er befürchte, dass der Gesellschaft der Austausch miteinander fehle, „dass wir immer sehr so ein Silo-denken haben“. Das sehe er auch an der Diskussion über das Coronavirus. Man werde sehr schnell angegriffen und in eine bestimmte Ecke gestellt, wenn man eine kritische Meinung äußere. Das habe sich schon in der Flüchtlingskrise 2015 gezeigt, und das zeige sich auch jetzt wieder, sagt Fischer. „Da sehe ich die Gefahr, wenn wir der politischen Debatte zu sehr aus dem Weg gehen, dann wird Raum freigegeben für Rechtspopulisten und Verschwörungstheoretiker“, sagt Fischer. Diese umgäben sich dann mit Leuten aus der Mitte. „Damit laufen wir Gefahr, unsere Gesellschaft zu teilen“. Gerade deshalb seien Gespräche wie dieses wichtig. Maxbauer stimmt ihm zu.
Ein paar Streitpunkte gibt es aber doch. Unterschiedlicher Meinung sind die beiden Männer etwa bei der Frage, ob für alle Bevölkerungsgruppen in der Corona-krise dieselben Einschränkungen gelten sollen. Fischer findet, dass man darüber nachdenken sollte, Risikogruppen, also primär ältere Menschen oder Menschen mit Vorerkrankungen, zu isolieren. Maxbauer nicht, ihn erinnert
Meine Gesprächspartnerin Leonie findet – im Gegensatz zu mir –, dass man in der Corona-krise den Datenschutz unter Umständen lockern sollte, um Infektionsketten schneller verfolgen zu können. Sie findet auch, dass Online-unterricht nach der Pandemie kein fester Bestandteil des Lehrplans werden sollte. Ich sehe das anders. In den restlichen fünf Fragen zum Thema Corona sind wir gleicher Meinung. Aus diesen Informationen habe ich mir also mein Bild gemacht, das ich jetzt einem Realitätscheck unterziehe.
„Hallo Leonie! Ja cool … Schön, dass das geklappt hat!“, ist das, was ich rausbringe, als ich sie das erste Mal sehe. Leonie sitzt an ihrem Schreibtisch und grüßt sehr nett durch den Bildschirm meines Laptops zurück. Erste Hürde geschafft. Wie vermutlich alle anderen Teilnehmer sprechen wir nun darüber, wer wir denn eigentlich sind. Ich: Aus Düsseldorf, absolviere eine Ausbildung zur Redakteurin bei der Rheinischen Post. Sie: Schreibt ihre Masterarbeit im Fach Ernährungswissenschaften in der Nähe von Stuttgart, kommt ursprünglich aus Hannover. Okay, kann losgehen.
Beim Thema Datenschutz sehen wir die Dinge unterschiedlich. Sollten die strengen Regelungen in Deutschland gelockert werden, um Infektionsketten besser nachverfolgen zu können? Eher nicht, finde ich. „Man sollte mit so etwas gar nicht erst anfangen, auch wenn es extrem verlockend klingt.“Wäre es nicht besser, mehr an die Menschen zu appellieren, die Maßnahmen besser einzuhalten und weiter vorsichtig zu sein? Nein, findet Leonie. „Ich habe Angst, dass es bald nicht mehr reicht, nur an die Leute zu appellieren“, sagt sie. Vielleicht hat sie damit recht, denke ich mir. „Ich habe das Gefühl, dass so viel Müdigkeit da ist. Ich denke, dass im Nachverfolgen von Infektionsketten sehr viel Potential steckt, um die Pandemie einzudämmen. Die Daten müssten natürlich extrem gut verschlüsselt und geschützt sein.“
Und dann geht es um Glauben. Der gibt Leonie gerade jetzt in der Krise Hoffnung, wie sie mir gegen Ende unseres eineinhalbstündigen Gesprächs erzählt. „Der Blick auf Gott, der so allmächtig ist, beruhigt mich, weil im Anbetracht seiner Größe das Ausmaß und die Gewalt der Corona-krise ein stückweit relativiert wird. Weil Gott einfach so, so viel größer ist.“Ein interessanter Gedanke, finde ich. Ich, die auf die Frage, was mir in der Corona-krise denn Sorgen mache, nur eine egoistische „Meine Reisefreiheit soll nicht so lange eingeschränkt bleiben“-antwort ins Anmeldeformular getippt hatte. Am liebsten hätte ich meine Antwort gleich wieder gelöscht und etwas Positives und Optimisches eingefügt, so wie Leonie.