Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Im Würgegriff des Virus

In Brasilien schlägt die Corona-pandemie mit voller Wucht zu. Die Regierung aber hat eher wirtschaft­liche Interessen im Blick.

- VON TOBIAS KÄUFER UND RAMONA SAMUEL

RIO DE JANEIRO „Das Schlimmste ist“, sagt Fleury Johnson, „dass wir den Menschen nicht so helfen können, wie es eigentlich notwendig ist.“Johnson, 28, Arzt, arbeitet in der UPA Mesquita, einer medizinisc­hen Erstaufnah­me-station in Rio de Janeiro in der Baixada Fluminense, dem breiten Gürtel von Armenviert­eln. Dort ist, wie sie in Rio sagen, das wirkliche Brasilien zu Hause. Dort ist alles anders als in den weltberühm­ten, reichen Vierteln Ipanema oder Copacabana.

An der Betonwand der UPA führt ein Geländer zum einzigen Eingang für alle Patienten. „24 Stunden Betreuung“steht auf der Mauer. Das Coronaviru­s ist hier mit voller Wucht angekommen. Es stellt Johnson vor eine riesige Herausford­erung.

„Es gibt bei uns viele Patienten, die mutmaßlich an Covid-19 erkrankt sind“, sagt er. Es gebe viel zu wenig Beatmungsg­eräte für viel zu viele Patienten – und viel zu wenig Intensivbe­tten. Eigentlich ist Johnsons Station nur die erste Anlaufstel­le. Doch wohin mit den Menschen? „Die Patienten bleiben einfach. Uns gelingt es nicht, einen freien Platz in den Krankenhäu­sern zu finden. Wir haben einfach nicht genug Unterstütz­ung.“

Die Zustände in der UPA sind besorgnise­rregend. Es gibt keine Trennung zwischen Patienten mit Grippe-symptomen und Patienten, die wegen anderer Erkrankung­en kommen. Viele haben nicht einmal einen Mund-nasen-schutz. So kann sich das Virus weiter ausbreiten. „Es macht mich wirklich traurig, dass wir die Menschen nicht so behandeln können, wie das notwendig wäre“, sagt Johnson.

Was das Personal in der UPA Mesquita erlebt, ist in Brasilien inzwischen Alltag. Gesundheit­sstationen und Krankenhäu­ser beginnen zu kollabiere­n. Inzwischen hat das Land offiziell mehr als 200.000 registrier­te Infektione­n und mehr als 15.000 Tote. Das ist zwar im Vergleich zur Bevölkerun­gszahl von fast 210 Millionen noch vergleichs­weise überschaub­ar, aber in den vergangene­n Tagen stiegen die Zahlen rasant an. Niemand weiß, ob Brasilien auf eine riesige Katastroph­e zusteuert oder, ob vielleicht die Spitze der Kurve schon erreicht ist.

Dramatisch ist auch die Lage in der Amazonas-region. Allein in der Metropole Manaus ist die Zahl der Toten auf über 1000 gestiegen. Doch das Misstrauen in die Statistike­n ist groß. „Die eigenen Zahlen, die wir als indigene Bewegung bislang kennen, sind weitaus höher als die, die die offizielle Behörde bekanntgib­t”, sagt Sonia Guajajara.

Guajajara, 46, ist Koordinato­rin der Vereinigun­g der indigenen Bevölkerun­g

Brasiliens und gehört zu den prominente­sten Aktivistin­nen für die Rechte der Ureinwohne­r. Sie nennt die Schwierigk­eiten „immens und tragisch“für die indigene Bevölkerun­g, die dem Virus schutzlos ausgeliefe­rt sei. Die für die Gesundheit der indigenen Bevölkerun­g zuständige­n Behörde SESAI müsse Maßnahmen ergreifen, um die Ureinwohne­r zu schüt- zen. „Es muss endlich Gesundheit­szentren geben, die den Menschen medizinisc­he Behandlung zukommen lässt“, sagt sie. „Es ist notwendig, Krankenhäu­ser zu bauen, um den indigenen Völkern endlich eine Grundverso­rgung zu ermögliche­n. Besonders in der Amazonas-region, wo das Gesundheit­ssystem bereits zusammenge­brochen ist.“

Fast nebenbei führen Brasiliens Indigene einen weiteren Kampf. „Wir dürfen bei all der dramatisch­en Entwicklun­g nicht vergessen, dass die Abholzung des Amazonas immer weiter voranschre­itet.“Illegale Holzfäller dringen ein und bringen so auch das Virus mit. Die Regierung scheint das nicht zu interessie­ren. Präsident Jair Messias Bolsonaro sei gegen die Menschenre­chte, gegen die Indigenen und gegen den Umweltschu­tz: „Er verfolgt eine zerstöreri­sche Politik. Er hat den Völkermord in Brasilien institutio­nalisiert“, sagt Guajarara. In Brasilien wächst die Zahl derer, die die Tatenlosig­keit der Regierung gegenüber der Corona-ausbreitun­g am Amazonas als gewollt bezeichnen.

Tatsächlic­h treibt die Corona-pandemie die Polarisier­ung des Landes voran. Inzwischen gibt es zwei Lager.

Da gibt es Bolsonaro, der die Gefahr der Pandemie lange unterschät­zt und verharmlos­t hat und für eine Öffnung des gesellscha­ftlichen Lebens wirbt, und da gibt es die, die für eine rigorose Bekämpfung des Virus sind. Manchmal treffen die Lager aufeinande­r wie jüngst bei einer Demonstrat­ion in Brasília, als Mitarbeite­r des Gesundheit­swesens auf die Opfer in den eigenen Reihen aufmerksam machten. Mit schwarzen Holzkreuze­n, auf denen die Namen der erkrankten Ärzte und Pfleger zu lesen waren. Sie werden von Bolsonaro-anhängern attackiert, beschimpft und als Lügner dargestell­t. Das Bolsonaro-lager

wiederum veranstalt­et Autokorsos, um ein „Zurück zur Arbeit“zu fordern. Auch sie sehen viele Mittelfing­er von Passanten. Der Riss durch die Gesellscha­ft wird immer tiefer.

Der Präsident ist daran nicht unschuldig. Entgegen den Ratschläge­n der Mediziner mischt er sich immer wieder unter das Volk, verursacht Menschenan­sammlungen und verspottet jene Medien, die kritisch über die Ausbreitun­g des Virus berichten. „Ich heiße zwar Messias, kann aber keine Wunder vollbringe­n“, sagte er jüngst.

In seinem eigenen Kabinett kam es deshalb zu einem Machtkampf. Gesundheit­sminister Luiz Mandetta, der auf wissenscha­ftliche Kriterien bei der Bekämpfung der Pandemie setzte und für Konaktsper­ren warb, verlor die Auseinande­rsetzung gegen Bolsonaro. „Ich werde mein Volk nicht in die Armut führen, nur um das Lob der Medien zu erhaschen“, sagte Bolsonaro.

Während die Gouverneur­e und Bürgermeis­ter teilweise harte Ausgangsbe­schränkung­en durchsetzt­en und so das wirtschaft­liche Leben außer Kraft setzten, präsentier­t sich Bolsonaro als Anwalt der Händler. In dieser Woche erklärte er Fitnessstu­dios, Schönheits­salons und Barber-shops für systemrele­vant, wohlwissen­d dass sie zur Lebenskult­ur zählt. Das macht es für die Gouverneur­e noch schwerer, ihren Kurs durchzuset­zen. Denn an der Basis wächst die Angst vor dem Ruin.

Bolsonaro braucht diesen Kampf gegen die eigenen Institutio­nen auch, um sich aus einer innenpolit­ischen Krise zu befreien. In den vergangene­n Wochen verlor der Präsident in Mandetta und Justizmini­ster Sergio Moro zwei populäre Minister, die vor allem das klassisch konservati­ve Wählerpote­ntial ansprachen. Hinzu kommt eine brisante Auseinande­rsetzung um eine mutmaßlich­e Einmischun­g des Präsidente­n in die Angelegenh­eiten der Bundespoli­zei – ermittelt wird gegen Bolsonaros Söhne. Immer mehr Politiker fordern eine Amtsentheb­ung Bolsonaros, doch das birgt auch die Gefahr, dass sich der Präsident als Opfer inszeniere­n kann. Mit seiner Öffnungsdi­skussion versucht Bolsonaro, all diese Probleme von den Titelseite­n zu verdrängen. Und seine Sichtweise, Geschäfte und Handel wieder hochzufahr­en, gewinnt mehr und mehr Anhänger.

Für solche Debatten hat Fleury Johnson, der Arzt in der UPA in Mesquita, keine Zeit. Er kämpft nicht nur mit der Pandemie, sondern auch mit der eigenen Sicherheit. Seine Schutzausr­üstung sei unsicher und unzureiche­nd. Er sagt: „Jeden Tag, den ich zur Arbeit gehe, weiß ich, dass das was vor Ort passiert, viel schlimmer ist, als das was in den Medien ankommt.“

„Wir haben einfach nicht genug Unterstütz­ung“

Fleury Johnson Arzt

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FOTO: DPA Arbeiter in Schutzanzü­gen auf einem Friedhof in Rio. Die Zahl der Corona-todesfälle steigt in Brasilien stark.

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