Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss
ESC-FANS sehen doppelt
Kein richtiger Wettbewerb, dafür zwei Alternativveranstaltungen im Ersten und bei Prosieben – Zuschauer mussten sich entscheiden. Die ARD setzte auf ein bewährtes Rezept, der Privatsender auf Gags und einen außerirdischen Gast.
HAMBURG The Roop sind die Sieger der Herzen beim diesjährigen Eurovision Song Contest (ESC). Zumindest wenn es nach den deutschen Fernsehzuschauern geht. Die wählten die litauische Band mit ihrem Song „On Fire“zum Gewinner. Die coole Indie-nummer überzeugte nicht zuletzt mit einer simpel-verrückten Tanzperformance. Ein Mittanzhit, der schon in den vergangenen Monaten europaweit für Aufmerksamkeit gesorgt hatte. Es gehört zu den tragischen Geschichten der Esc-absage, dass The Roop ihren Song nicht auf der großen Bühne in Rotterdam darbieten durften. Die Chance auf den ersten litauischen ESC-SIEG wäre groß gewesen.
Es war ein ziemlich holpriger Weg, der überhaupt erst zu der Samstagabend-show aus der Hamburger Elbphilharmonie geführt hatte. Nach der Corona-bedingten Absage des ESC, der ersten in der 65-jährigen Geschichte des Musikwettbewerbs, plante die ARD zunächst lediglich mit einer zentral produzierten Esc-ersatz-show. Wohl auch unter dem Eindruck der Konkurrenz des „Free European Song Contest“entschied sich der Sender um. So wurde am Samstag nun zumindest der deutsche Sieger des Eurovision Song Contest gesucht. Moderatorin Barbara Schöneberger wurde dabei nicht müde zu betonen, dass es sich bei ihrer Sendung (und nicht bei der Prosieben-alternative) um das „Original“handele.
In einer schier endlosen Show aus ruckelnden Videoclips hatten die Zuschauer bereits eine Woche zuvor ihre zehn Lieblinge aus den 41 Esc-teilnehmern ausgewählt. Beim Finale präsentierte sich der Sender immerhin deutlich professioneller. Drei der zehn Starter,
darunter die Sieger aus Litauen, traten sogar live in der Elbphilharmonie auf. Von den weiteren sieben Songs liefen Musikvideos oder aufgezeichnete Auftritte, was zu einem ungleichen Wettbewerb führte. Die Sieger aus Litauen waren wie die Starter aus Dänemark (Ben & Tan) und Island (Dadi og Gagnamagnid) extra nach Hamburg gereist. Dadi präsentierte eine abgeänderte, merkwürdig langsame Version seines Lieds „Think About Things“, mit dem er bei den Buchmachern neben The Roop zu einem der Topfavoriten auf den ESC-SIEG gezählt wurde. Der angepasste Auftritt reichte bei den Fernsehzuschauern nur zu Platz vier. Da zur Hälfte auch eine Fachjury entscheiden durfte, die Dadi ganz vorne sah, wurde der Isländer Zweiter.
Der deutsche Starter Ben Dolic durfte außer Konkurrenz seinen für den ESC geplanten Song „Violent Thing“darbieten. Dolic hätte wegen der für deutsche Verhältnisse eingängigen und modernen Nummer zwar deutlich besser abgeschnitten als die S!sters, die 2019 Vorletzte wurden. Ein Kandidat für ganz vorne wäre er allerdings nicht gewesen.
Gegen Ende ging der Show ein wenig die Luft aus. Da halfen auch die Sprüche und Anrufmahnungen von Moderatorin Barbara Schöneberger nicht. Am Ende sang noch Michael Schulte, Deutschlands Esc-starter von 2018, auch seinen Hit „You Let Me Walk Alone“, mit dem er den vierten Platz erreicht hatte.
Im Ersten folgte zeitversetzt eine zweistündige internationale Ersatzshow des niederländischen Fernsehens, bei der es aber kein Voting gab. Bei dieser Sendung stürzte die Quote auf nur noch 1,6 Millionen. Der ESC 2021 wird, wie die European Broadcasting Union am Samstagabend bestätigte, in Rotterdam stattfinden.
KÖLN Um 22.12 Uhr wird das Geheimnis endlich gelüftet, wer der deutsche Vertreter bei der ersten Auflage des „Free European Song Contest“, kurz „Free ESC“, ist. Etliche hatten gehofft, es könnte sich tatsächlich um ein Tv-comeback von Stefan Raab handeln. Schließlich stammt die Idee des „Free ESC“von ihm. Doch es war Helge Schneider, der mit seinem Corona-song „Forever at Home“den ersten Teil des Abends beendete. Raab war in seiner Show nur in einem aufgezeichneten Clip kurz als Nicole-parodist zu sehen.
Stefan Raab und europäische Musikwettbewerbe – das passt. Beim ESC war der Entertainer, der im Jahr 2015 seine Tv-karriere für beendet erklärt hatte, sechs Mal an einem deutschen Beitrag beteiligt, und jedes Mal stand am Ende mindestens ein Platz unter den ersten Zehn zu Buche. Vor 20 Jahren trat er mit „Wadde hadde dudde da?“selbst an und erreichte den fünften Platz. Das Highlight war 2011 in Oslo, als Lena Meyer-landrut gewann.
Der verbindende Gedanke, der den Eurovision Song Contest seit jeher begleitet, wurde auch bei der Alternative von Prosieben weiter getragen. 15 Länder nahmen teil, zwar weit weniger als beim richtigen ESC, doch auch der „Free ESC“schaltete im zweiten Teil der Sendung quer durch die Teilnehmerländer, um die Punkte abzufragen. Während beim Original für den Großteil der deutschen Zuschauer die meisten Künstlerinnen und Künstler unbekannt sind, dürften die meisten Musiker beim „Free ESC“geläufig gewesen sein. Stefanie Heinzmann für die Schweiz, Sarah Lombardi für Italien, Glasperlenspiel für Polen, Eko Fresh für die Türkei und Nico Santos für Spanien sind in der deutschen
Pop-landschaft durchaus etabliert. So gab es keine wirklichen Underdogs, es kam aber auch nicht zu großen Überraschungen. Ein solider Samstagabend, ohne große musikalische Highlights.
Wie beim Original-esc wurden auch bei der Raab-variante die einzelnen Länder in einem kurzen Video vorgestellt, allerdings in „TV Total“-manier mit lustigen Clips, die teilweise aber auch über die Stränge schlugen. Etwa die Bulgaren im Einspieler als pupsendes Volk darzustellen, war einfach daneben.
Ein weiterer Unterschied zum Eurovision Song Contest war dann auch die Prozedur der Punktevergabe. Während die Musikfans aus Deutschland, Österreich und der Schweiz per Anruf und SMS für ihre jeweiligen Favoriten abstimmen konnten, erfolgte die Vergabe aus den übrigen Ländern durch nur eine Person, die nach dem eigenen Geschmack wählen durfte. Nicht überraschend, dass zum Beispiel Profi-fußballer Lukas Podolski, der in Antalya lebt, die Maximalpunktzahl von zwölf Punkten für Polen an die Türkei vergab. Ein Gag war das Gastland „Der Mond“, das von Sänger Max Mutzke in Astronauten-verkleidung vertreten wurde, weil er in diesem Kostüm die Prosieben-sendung „The Masked Singer“gewonnen hatte.
Der Sieg entschied sich zwischen Ilse Delange („Changes“) aus den Niederlanden und Nico Santos – am Ende jubelte der auf Mallorca aufgewachsene Santos für Spanien. Helge Schneider landete auf dem vierten Platz. Wie es 2021 mit dem „Free ESC weitergeht, ist offen. Raabs Variante soll aber eine dauerhafte Einrichtung werden, hatte Prosieben-chef Daniel Rosemann im Vorfeld verkündet. „Wir haben immer gesagt, wir gründen den ‚FREEESC‘ – man gründet nichts für einmal, man gründet für immer.“
„ESC 2020 – das deutsche Finale“(Das Erste) Zuschauer: 3,1 Millionen Sieger: Litauen
„Free European Song Contest“(Prosieben) Zuschauer: 2,6 Millionen Sieger: Spanien