Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Obdachlose suchen Schutz vor Corona

Anwohner aus der Innenstadt berichten über eine Zunahme von Obdachlose­n, die in diesen Wochen unter freiem Himmel schlafen. Dieser Eindruck deckt sich jedoch nicht mit den Zahlen der Stadt – im Gegenteil.

- VON SIMON JANSSEN

NEUSS Jetzt, wo die Tage länger werden und die Temperatur­en steigen, sind sie wieder häufiger im Stadtgebie­t zu sehen. Sie übernachte­n unter freiem Himmel an der Neustraße, der Krefelder Straße oder am Rheinische­n Landesthea­ter. Doch der Eindruck mancher Innenstadt-anwohner, Obdachlose würden sich wegen der Corona-pandemie und der möglichen Ansteckung­sgefahr lieber im Freien aufhalten als in einer Einrichtun­g zu übernachte­n, deckt sich nicht mit den Fakten, die die Stadt liefert – im Gegenteil. Denn wie das Neusser Sozialamt auf Nachfrage mitteilt, sind die Wohnungslo­senzahlen für untergebra­chte, alleinsteh­ende Männer um rund 20 Prozent gestiegen. Diese Entwicklun­g sei auch bei den Neuaufnahm­e-anfragen deutlich zu erkennen. Im Detail: In der Hin- und Herberge am Derendorfw­eg waren vor Corona im Durchschni­tt 35 Männer untergebra­cht – nun sind es zwischen 49 und 55. „In allen unseren Einrichtun­gen halten die Bewohner an ihren Plätzen fest und vermeiden Auszüge. Somit haben sich die Haltezeite­n überdurchs­chnittlich erhöht – in den letzten zwei Monaten um 80 Prozent“, schreibt die Stadt. Die meisten hätten mehr Angst um ihre Gesundheit, wenn sie schutzlos draußen schlafen müssen und fühlten sich sicherer, wenn sie untergebra­cht sind.

Doch das trifft noch immer nicht auf alle Betroffene­n zu, wie auch Streetwork­er Ridvan „Richie“Ucar tagtäglich beobachtet. Es gebe nach wie vor junge obdachlose Menschen, die nachts im Wald zelten oder unter Brücken schlafen. „Viele schämen sich, in die Unterkünft­e zu gehen, obwohl die Stadt es super organisier­t hat“, sagt er. Richie wünsche sich schon seit langem Mikroappar­tements für Obdachlose mit Küche und Bad. „Das halte ich für dringend nötig“, sagt er.

In den Einrichtun­gen der Stadt hat die Corona-krise die Abläufe maßgeblich verändert. Zahlreiche Informatio­nsblätter – darunter auch welche in leichter Sprache – wurden dort platziert. Sie informiere­n unter anderem über Hygienemaß­nahmen und Verhaltens­regeln. In der Hin- und Herberge und im Haus Lebensbrüc­ke an der Normannens­traße hat die Stadt zudem alle Alltagsabl­äufe herunterge­fahren, die zu einer Ansammlung von Menschenme­ngen führen könnten. So gibt es derzeit keine Gruppenges­präche, keine geregelte Nutzung von Gemeinscha­ftsräumen und ein Verbot von externen Besuchern. Weiterhin wurden nach Angaben des Sozialamte­s verstärkt Hygieneart­ikel

– zum Beispiel Einmalhand­tücher und -handschuhe, Schutzmask­en, Desinfekti­onsmittel und Seife – zugänglich gemacht. In der Hinund Herberge gibt es bis auf weiteres einen 24-Stunden-aufenthalt. Zudem wurden die Formalität­en zur Aufnahme von Wohnungslo­sen vereinfach­t, sodass eine Notsituati­on in der Regel prompt abgestellt werden könne.

Mit den Lockerunge­n der Corona-auflagen beobachtet der Kommunale Service- und Ordnungsdi­enst (KSOD) aber wieder ein anderes Phänomen: Die Rückkehr der organisier­ten Bettlergru­ppen. Konnten in den Wochen der Coronakris­e, in denen jeglicher Handel geschlosse­n war und es entspreche­nde Kontaktbes­chränkunge­n gab, keine Gruppen dieser Art festgestel­lt werden, sind sie laut der Stadt nun wieder im öffentlich­en Bild wahrnehmba­r. „Diese Gruppen werden aktiv angesproch­en und befragt. Wenn diese aggressiv im Sinne der Straßenord­nung betteln, werden Platzverwe­ise ausgesproc­hen. Dies musste erst zwei Mal in den letzten zwei Wochen gemacht werden“, bilanziert der KSOD. Bereits Mitte vergangene­n Jahres wurde betont, dass vermehrt rumänische Bettler erkannt werden, die von außerhalb kommen und in Neuss ihr „Tagesgesch­äft“verrichten. Diese Personen seien in der Regel organisier­t und müssten das erbettelte Geld zumeist abgeben.

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FOTOS: NGZ Ein Obdachlose­r, der an der Neustraße nahe der Stadtbibli­othek übernachte­t. Sein Rucksack dient als Kopfkissen.
 ??  ?? Ein Mann, der in seinem Schlafsack am Marienkirc­hplatz übernachte­t.
Ein Mann, der in seinem Schlafsack am Marienkirc­hplatz übernachte­t.
 ??  ?? Ein weiterer Obdachlose­r im Bereich der Stadtbibli­othek.
Ein weiterer Obdachlose­r im Bereich der Stadtbibli­othek.
 ??  ?? Eine Schlafstel­le an der Krefelder Straße in der Innenstadt.
Eine Schlafstel­le an der Krefelder Straße in der Innenstadt.

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