Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss
Obdachlose suchen Schutz vor Corona
Anwohner aus der Innenstadt berichten über eine Zunahme von Obdachlosen, die in diesen Wochen unter freiem Himmel schlafen. Dieser Eindruck deckt sich jedoch nicht mit den Zahlen der Stadt – im Gegenteil.
NEUSS Jetzt, wo die Tage länger werden und die Temperaturen steigen, sind sie wieder häufiger im Stadtgebiet zu sehen. Sie übernachten unter freiem Himmel an der Neustraße, der Krefelder Straße oder am Rheinischen Landestheater. Doch der Eindruck mancher Innenstadt-anwohner, Obdachlose würden sich wegen der Corona-pandemie und der möglichen Ansteckungsgefahr lieber im Freien aufhalten als in einer Einrichtung zu übernachten, deckt sich nicht mit den Fakten, die die Stadt liefert – im Gegenteil. Denn wie das Neusser Sozialamt auf Nachfrage mitteilt, sind die Wohnungslosenzahlen für untergebrachte, alleinstehende Männer um rund 20 Prozent gestiegen. Diese Entwicklung sei auch bei den Neuaufnahme-anfragen deutlich zu erkennen. Im Detail: In der Hin- und Herberge am Derendorfweg waren vor Corona im Durchschnitt 35 Männer untergebracht – nun sind es zwischen 49 und 55. „In allen unseren Einrichtungen halten die Bewohner an ihren Plätzen fest und vermeiden Auszüge. Somit haben sich die Haltezeiten überdurchschnittlich erhöht – in den letzten zwei Monaten um 80 Prozent“, schreibt die Stadt. Die meisten hätten mehr Angst um ihre Gesundheit, wenn sie schutzlos draußen schlafen müssen und fühlten sich sicherer, wenn sie untergebracht sind.
Doch das trifft noch immer nicht auf alle Betroffenen zu, wie auch Streetworker Ridvan „Richie“Ucar tagtäglich beobachtet. Es gebe nach wie vor junge obdachlose Menschen, die nachts im Wald zelten oder unter Brücken schlafen. „Viele schämen sich, in die Unterkünfte zu gehen, obwohl die Stadt es super organisiert hat“, sagt er. Richie wünsche sich schon seit langem Mikroappartements für Obdachlose mit Küche und Bad. „Das halte ich für dringend nötig“, sagt er.
In den Einrichtungen der Stadt hat die Corona-krise die Abläufe maßgeblich verändert. Zahlreiche Informationsblätter – darunter auch welche in leichter Sprache – wurden dort platziert. Sie informieren unter anderem über Hygienemaßnahmen und Verhaltensregeln. In der Hin- und Herberge und im Haus Lebensbrücke an der Normannenstraße hat die Stadt zudem alle Alltagsabläufe heruntergefahren, die zu einer Ansammlung von Menschenmengen führen könnten. So gibt es derzeit keine Gruppengespräche, keine geregelte Nutzung von Gemeinschaftsräumen und ein Verbot von externen Besuchern. Weiterhin wurden nach Angaben des Sozialamtes verstärkt Hygieneartikel
– zum Beispiel Einmalhandtücher und -handschuhe, Schutzmasken, Desinfektionsmittel und Seife – zugänglich gemacht. In der Hinund Herberge gibt es bis auf weiteres einen 24-Stunden-aufenthalt. Zudem wurden die Formalitäten zur Aufnahme von Wohnungslosen vereinfacht, sodass eine Notsituation in der Regel prompt abgestellt werden könne.
Mit den Lockerungen der Corona-auflagen beobachtet der Kommunale Service- und Ordnungsdienst (KSOD) aber wieder ein anderes Phänomen: Die Rückkehr der organisierten Bettlergruppen. Konnten in den Wochen der Coronakrise, in denen jeglicher Handel geschlossen war und es entsprechende Kontaktbeschränkungen gab, keine Gruppen dieser Art festgestellt werden, sind sie laut der Stadt nun wieder im öffentlichen Bild wahrnehmbar. „Diese Gruppen werden aktiv angesprochen und befragt. Wenn diese aggressiv im Sinne der Straßenordnung betteln, werden Platzverweise ausgesprochen. Dies musste erst zwei Mal in den letzten zwei Wochen gemacht werden“, bilanziert der KSOD. Bereits Mitte vergangenen Jahres wurde betont, dass vermehrt rumänische Bettler erkannt werden, die von außerhalb kommen und in Neuss ihr „Tagesgeschäft“verrichten. Diese Personen seien in der Regel organisiert und müssten das erbettelte Geld zumeist abgeben.